Disarstar verpackt in Deutscher Oktober eine radikale Kritik am liberalen Wirtschaftssystem und unterstreicht die Perspektivlosigkeit ökonomisch schwacher Gesellschaftsschichten mithilfe von expressionistischen Stilmitteln.
Von Joscha Frahm
Disarstar verpackt in seinem aktuellen Album Deutscher Oktober grundlegende Systemkritik in der Musik. Der 27-jährige gebürtige Hamburger veröffentlicht damit bereits sein fünftes Album, das direkt auf Platz 5 der Albumcharts landete. Auch seine vorangegangenen Veröffentlichungen erregten einige Aufmerksamkeit und erzielten Platzierungen in den Top 20 der deutschen Albumcharts. Vor einem größeren Publikum spielte der Hamburger Rapper erstmals 2014 als Support-Act von Kontra K und wurde so auch außerhalb der Szene bekannt.
Persönlich und authentisch thematisiert Disarstar in Deutscher Oktober die Hoffnungslosigkeit derer, die der Kapitalismus aussiebt und am Ende als Verlierer:innen der freien Marktwirtschaft dastehen lässt. Dabei adressiert er nicht nur die Politik, sondern auch die Gesellschaft, die ökonomischen Erfolg als Maßstab setzt und dabei die schlechter gestellten Gesellschaftsschichten ignoriert.
Kritik am Mainstream RapDisarstar grenzt sich vom Mainstream-Rap ab und übt massive Kritik daran. Dabei geht er auf homophobe und frauenfeindliche Texte ein, die im Deutschrap keine Ausnahme darstellen. So gehören sexistische Lines bei bekannten deutschen Rappern wie Farid Bang und Kollegah seit jeher zum Standardrepertoire. Disarstar schafft es hingegen, seine Systemkritik künstlerisch zu verarbeiten und mit lyrischer Brillanz statt mit Diss-Tracks zu glänzen. Die expressionistisch anmutenden Lines seiner Songs prägen sich ein und auch, bis auf wenige Ausnahmen, ohne die Verwendung homophober und sexistischer Texte schafft es Disarstar, zu provozieren und Aufmerksamkeit zu erregen. Im ersten Song des Albums Intro (Balenciaga) geht es vor allem um die Art von Deutschrap, die einen aus Disarstars Sicht heuchlerischen Liberalismus repräsentiert, der davon ausgeht, dass jede:r seines Glückes Schmied sei. Dies vermittelt, wie Disarstar meint, ein falsches Bild von Erfolg.
Die große Verantwortung, die das Genre durch den Einfluss auf jüngere Generationen trägt, nutzt Disarstar mit Bedacht. So geht es in seinen Songs nicht um seine herausragenden Fähigkeiten als Rapper oder seinen Reichtum. Vielmehr wirft der 27-Jährige anderen Rapper:innen vor, keine gesellschaftskritischen Themen zu verarbeiten und ihre Verantwortung so nicht sinnvoll zu nutzen. Dennoch kommt auch Disarstar nicht ohne einige gewaltverherrlichende Lines aus und riskiert so, möglicherweise ein negatives Vorbild darzustellen. Mit Zeilen wie »Darum schmeißen wir Steine auf alles und jeden, die in einer Uniform laufen« (aus: Tyler) provoziert Disarstar zweifelsohne.
Doch ist nicht auch gerade das die Aufgabe einer Subkultur? Denn ohne jegliche Provokation ginge sicher ein Teil des Reizes verloren, den Rap Jugendlichen bietet. So stellt gerade das Verbotene einen wichtigen Aspekt dar, der Rap zu einer Art Geheimsprache der Jugend macht, die ältere Generationen zu einem gewissen Maße ausschließt und der jüngeren Generation hilft, gemeinsam empfundene Emotionen und Erlebnisse zu verarbeiten. Trotz seiner teilweise gewaltverherrlichenden Texte spricht sich Disarstar öffentlich gegen Gewalt aus, so sagt er in einem Interview mit der taz: »Mir liegt nichts ferner, als irgendwem ins Gesicht zu schlagen.« Und auch in anderen Texten verurteilt er Gewalt immer wieder, so zum Beispiel in dem Song Nachbarschaft: »Punks, die sich prügeln um Pfand, ja, es ist abgefuckt«. So schafft es Disarstar, trotzdem auch Verständnis für die Aggression, in der die Perspektivlosigkeit sozial benachteiligter Menschen resultieren kann, aufzubringen.
Expressionistisch verarbeitete PerspektivlosigkeitDisarstar stellt die Tristesse der Großstadt und die Chancenlosigkeit ökonomisch schwächerer Gesellschaftsschichten mithilfe expressionistisch anmutender Elemente dar, so auch in dem letzten Song des Albums: »Dämmende Mauern aus grauem Beton, ist die Sonne meist hinter ‘ner weißen verborgen« (La Fin) So baut er eine düstere und kühle Stimmung auf, die seine politischen Analysen ergänzt. Des Weiteren unterstreicht Disarstar seine Ansichten durch den Einsatz von Antithesen, die im Album immer wieder auftauchen. Mithilfe dieser schafft er es, die Ungleichheit an Chancen darzustellen, die die kapitalistische Gesellschaft aus Disarstars Sicht prägt. Dabei stellt der Rapper Begriffe gegenüber, welche die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft auf ökonomischer Dimension verdeutlichen sollen:
Ob Hure oder Klosterschüler, Habenix oder Großverdiener / […] Diese Stadt ist bettelarm und unverschämt reich / […] Meine Stadt ist wie zweigeteilt, was für Einigkeit / […] Vom Born Center bis Elbstrand ist, als wär’ ich durch die Zeit gereist (Großstadtfieber)
Hier untergräbt Disarstar seinen eigenen Grundsatz, keine sexistischen Lines zu verwenden. Doch im Vergleich zu anderen deutschen Rapper:innen verwendet Disarstar misogyne Ausdrücke deutlich sparsamer und vor allem, wie hier, im Kontext einer Systemkritik. Fragwürdig und kritisierbar bleibt das trotzdem. Denn Disarstar will ja gerade für ein Ideal der Gleichheit stehen und stellt sich mit der Verwendung frauenfeindlicher Ausdrücke selbst ein Bein.
Anderseits wird durch die Verwendung der Gegensätze deutlich, welche Extreme sich in der Gesellschaft gegenüberstehen, was bereits am Beispiel von Disarstars Heimatstadt Hamburg veranschaulicht wird. Diese Gegensätze bleiben im Alltag an vielen Orten unentdeckt, da sich die einzelnen sozialen Schichten nicht zwingend begegnen und nebeneinander existieren können, ohne einander Aufmerksamkeit schenken zu müssen. Damit macht Disarstar in Deutscher Oktober Schluss.
Authentische Kapitalismuskritik?
Disarstar selbst thematisiert diesen Widerspruch im Interview mit der taz:
Als Marxist lebe ich permanent in einem Widerspruch. Denn alles, was uns umgibt, ist schräg und unnatürlich. Deshalb ist der Zwang, an diesem gesellschaftlichen Spiel teilnehmen zu müssen, Teil meiner Kritik.
So stellt Disarstars Schaffen selbst einen Teil seiner Systemkritik dar, denn durch dieses vermittelt er die Botschaft: Es gibt keinen Ausweg eines:r Einzelnen aus dem System.
Melodie der RevolutionImmer wieder scheint Disarstars marxistische Position durch. Der Titel des Albums Deutscher Oktober hat eine historische Bedeutung, die zur Botschaft der einzelnen Lieder passt. Denn der Deutsche Oktober bezeichnet den Revolutionsversuch des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) während der Regierungskrise der Weimarer Republik. Als Fernziel hatte das EKKI dabei die kommunistische Weltrevolution im Blick. Dabei schreckten die Kommunist:innen auch nicht vor dem Gebrauch von Waffen zurück. Des Weiteren lässt sich auch ein Bezug zur linksradikalen Terrororganisation RAF (Rote Armee Fraktion) erkennen, denn als Deutscher Herbst wird auch die Zeit zwischen September und Oktober 1977 bezeichnet, in der die terroristische Vereinigung zahlreiche Anschläge verübte. Als Ziel verfolgte die RAF dabei ebenfalls eine klassenlose Gesellschaft. Auch Disarstar scheint ein kommunistisches System als Alternative in Betracht zu ziehen.
In den verschiedenen Songs scheinen immer wieder Revolutionspläne durch, so beispielsweise in Verloren (feat. Nura): »Die Antwort auf die liberale Arroganz heißt Klassenkampf.« Einige Lines klingen fast wie eine Drohung für die Mainstream-Politik, denn es wird deutlich: Disarstar ist wütend und hat nicht vor lockerzulassen.
Digga, wir maschier’n im Mob nach vorn’/ Liebe in mei’m Herz, im Kopf der Zorn (Verloren)
Dass der Weg der individuellen Emanzipation aus widrigen Umständen durch Arbeit allein keine Möglichkeit für Disarstar darstellt, zeigt sich in seinem Song Sick (feat. Dazzit): »Wir leben im Keller / Hustlen und hustlen und hustlen, haben nichts auf’m Teller«. Trotz harter Arbeit schaffen es nicht alle, ökonomisch unabhängig zu werden. Auch hier lässt sich Disarstars marxistische Überzeugungen wiederfinden, denn er sieht sich selbst als Teil der Unterschicht, die im kapitalistischen System gefangen ist und ausgebeutet wird. Durch noch härtere Arbeit zur Emanzipation zu gelangen scheint keinen Ausweg darzustellen, da die Strukturen der Produktion keine Möglichkeit bieten, um ökonomisch aufzusteigen. Daher bleibt nur noch die Revolution als mögliche Option für Disarstar.
Auch in Tsunami lassen sich einige Anspielungen finden, die Disarstars revolutionäre Haltung erahnen lassen: »Hol’ mir das Land wie ‘n Tsunami, greif’ an wie ‘n Tsunami / Eine Wand wie hunderttausend Mann, dieser Tsunami«. So verarbeitet Disarstar in seinem Album Deutscher Oktober mithilfe expressionistischer Stilmittel Kapitalismuskritik und thematisiert die Perspektivlosigkeit ökonomisch schwacher Gesellschaftsschichten, ohne dabei die Hoffnung zu verlieren.
Er klagt die Verfechter:innen eines liberalen Wirtschaftssystems an und bleibt einigen essentiellen Deutschrap-Elementen trotz seiner politischen Botschaft treu. Denn auch Disarstar verwendet provokante Begriffe und stellt sich als anderen Deutschrapper:innen überlegen dar, wenn auch in einer anderen Dimension als typisch für das Genre. So geht es bei ihm eher darum, ein besseres Bewusstsein für gesellschaftliche Missstände zu haben und nicht wie so häufig um Reichtum oder Fähigkeiten. Durch seine authentische Art, sein eigenes Leben in die Kritik einzuflechten, werden die Zuhörenden berührt und es wird klar, Disarstar meint ernst, wenn er rappt: Das jetzige Wirtschaftssystem ist am Ende.