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Duz mich nicht, Kapitalismus!

›Zur Sache‹ geht’s im Deutschen Theater Göttingen bei einer 60er-Jahre-Revue. Die Uraufführung durch das Berliner Theaterkollektiv andcompany&Co. verarbeitet Motive des Kultfilms »Zur Sache, Schätzchen« und vermischt Realität, Fiktion und Politik zu einem turbulenten und manchmal diffusen Bühnenereignis.

von Laura-Solmaz Litschel

In eine Welt, in der wir von IKEA geduzt werden, Springer regiert, Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke erschossen werden, in der Wolfgang Neuss vor die Hunde geht und Demonstrationen niedergeknüppelt werden, in diese Welt entführt uns das Deutsche Theater. Oder sind wir schon längst in dieser Welt angekommen?

In der makabren Talkshow »Der goldene Schuss« wird ›Wer-bin-ich‹ gespielt. Ein Mann steht in der Mitte, eine braunen Papiertüte über dem Kopf. Der Mann ist Rudi Dutschke. Als seine Identität endlich von den Kandidat_innen erraten wird, springt er auf ein Fahrrad und fährt im großen Kreis um sie herum, sie haben sich inzwischen um ein Gewehr versammelt, legen an und schießen auf ihn. Der Moderator der Show feuert an. Dreimal daneben. Ein lustiges Bild, Musik wird gespielt und die Zuschauer_innen lachen. Gelöste Stimmung. Schließlich wird Dutschke getroffen. Der goldene Schuss. Er fällt auf den Rücken und bleibt reglos liegen. Das Gelächter im Publikum verstummt abrupt. Mann, das war doch der Dutschke, das ist doch gar nicht lustig!

»Die Wirklichkeit ist manchmal ganz großes Kino, nicht nur die Revolution«

Revolution ist ein Wort, das im Stück beinahe inflationär verwendet wird. Was genau es im Kontext allerdings bedeuten soll, erklärt leider niemand. Die Demonstration gegen den Schah-Besuch, die Revolution auf Kuba, Polizeigewalt, Rechtsradikalismus und das ›Bed-In‹ von Yoko Ono und John Lennon: Das Stück spricht viele komplexe Themen der sechziger Jahre an. Allerdings sind es einfach zu viele Inhalte, oft wirkt das ganze überladen und die Verknüpfungen sind meist, auch ohne die Wissenslücken, mit denen sicher viele Zuschauer_innen zu kämpfen haben, schwer nachvollziehbar.

Auch werden ganz verschiedene Inhalte miteinander vermischt und vermitteln so manchmal ein diffuses Bild. Zum Beispiel als die Protagonist_innen mit erhobenen Händen an einer Wand aufgestellt werden, an der Bilder von Mao neben Ratzinger oder Beate Zschäpe neben der RAF abgebildet sind. Es bleibt die Frage nach der Aussage? Etwa, dass das alles dasselbe ist? Würde das nicht schon fast an krude Extremismustheorie erinnern? Das Stück reißt komplexe Themen häufig nur an, vermischt Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fiktion und traut sich am Ende doch nicht weiter in die Tiefe. So wirken manche Sätze wie Überschriften zu einem Artikel, dessen Inhalt fehlt. Dabei bietet es inhaltlich viel explosiven Stoff, der durch die Sprengstoffgürteln der beiden Marias bloß angedeutet wird.

Das Stück

von andcompany&Co.
Bühne: Jan Brokof
Dramaturgie: Lutz Keßler

Premiere:
09.02.2013

 

DT

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Das Deutsche Theater in Göttingen zeigt als größtes Theater der Stadt ein umfangreiches Repertoire auf drei Bühnen. Bereits seit den 1950er Jahren errang das DT unter Leitung des Theaterregisseurs Heinz Hilpert den Ruf einer hervorragenden Bühne. Seit 1999 garantiert Intendant Mark Zurmühle bewährte Theatertradition sowie Innovation.
 
 
Aber es gibt trotzdem viele Momente, die das spannende Stück auch inhaltlich sehenswert machen. Schön ist die Arbeitskritik, da ruft ein Schauspieler: »I didn’t go to work today and I don’t think I’ll go tomorrow!« Endlich! Kapitalismuskritik. Aufstand der Nutzlosen! Vielleicht doch ein Hinweis darauf, wie die moderne Revolution nach 68 aussehen könnte? Oder: Braune Mülltüten mit Gesichtern bemalt vor einer Großstadtkulisse werden von Polizisten niedergeknüppelt, bis sie fallen. Auch das Bühnenbild von Jan Brokof ist gelungen und unterstreicht die Gesellschaftskritik, indem, nicht das erste Mal im Stück, auf Polizeigewalt verwiesen wird.

Am Ende bleibt der Eindruck einer politischen Collage zurück, mühsam zusammengeklebt mit verwirrenden Dialogen über eine ›Sache‹. Was diese mysteriöse ›Sache‹ aber denn nun ist, bleibt im Dunkeln und interessiert ehrlich gesagt auch gar nicht weiter. Vielleicht hätte man das Gerede über sie einfach weglassen sollen. Übrig geblieben wäre dann das, was sowieso im Gedächtnis bleibt: Eine schöne und sehenswerte Collage.



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 Veröffentlicht am 19. März 2013
 Foto von Thomas Müller mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Theaters Göttingen
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