In ihrem Debütroman Hira Mandi erzählt Claudine Le Tourneur d’Ison die Geschichte des pakistanischen Malers Iqbal Hussain. Schonungslos und bildgewaltig verwebt sie die brutale Jugend im Rotlichtviertel mit der Historie des Subkontinents, das Schicksal der Prostituierten mit dem Schicksal eines ganzen Landes.
von Nadja Reusch
zuerst erschienen in Kulturaustausch IV (2006)
Naseem ist eine der schönsten und begehrtesten Tänzerinnen in Hira Mandi, dem Vergnügungsviertel von Lahore. Nacht für Nacht bleibt ihr Sohn Chanwaz allein im Haus zurück, während sie in seidenem Sari und bunt geschminkt in eine der vielen Tanzbars aufbricht. Im Morgengrauen, das Ohr an die Zimmerwand gepresst, versteht er schon früh, dass Naseem den Männern für deren Rupien mehr bietet als nur für sie zu tanzen. In diesem rein weiblichen Familiengeschäft der Prostitution erfüllt er keine Funktion, fühlt sich als nutzloser Stein auf dem Schachbrett der Randgesellschaft.
Claudine Le Tourneur d’Isons Debütroman Hira Mandi erzählt, wie Chanwaz versucht, der dumpfen Langeweile und Perspektivlosigkeit zu entfliehen, um sich und allen anderen den Sinn und Nutzen seines Daseins zu beweisen. Auch für ihn muss es doch einen Platz geben in der Gesellschaft jenseits der Stadtmauer. Er beschäftigt sich intensiv mit dem Islam, lernt lesen und schreiben, findet schließlich seine Berufung in der Malerei. Portraits der schillernden Tänzerinnen von Hira Mandi sollen der Welt die Augen öffnen für die Stärke und Schönheit der Frauen, die sein Denken und Handeln seit jeher prägen. Stärke und Schönheit gilt es schließlich zu fixieren, in diesem unruhigen Land, das nach zweihundert Jahren Kolonialgeschichte 1947 plötzlich unter viel Blutvergießen in zwei Staaten zerfällt – das hinduistische Indien und das muslimische Pakistan.
Denn Hira Mandi ist ein orientalischer Bildungsroman, der die Historie des Subkontinents, den Fundamentalismus, politische Repressionen sowie die Frage nach der Vereinbarkeit der Scharia mit westlichen Werten aufgreift und in ihrer Brianz fasst – eng verwoben mit der wilden Lebensgeschichte des pakistanischen Bohème. Fast immer sind diese Hintergrundinformationen wunderbar unmerklich in die Erzählung eingewoben. Leider fallen dadurch die wenigen Stellen besonders auf, in denen Figuren in einem unnatürlich anmutenden Dialog einen historischen Abriss präsentieren und etwas plump zu viele Informationen geben.
In solchen Momenten bekommt die sonst so eindringlich auktoriale Erzählstimme D’Isons einen distanzierten, oberlehrerhaften Ton. Diese Phasen sind aber kurz und schnell vergessen, da einen die starken Bilder D’Isons bald wieder einfangen. Chanwaz’ Genuss von frischem Mangoeis wird so zu einem fast schon karthartischen Sinnerlebnis:
Seeligkeit. Glück. Mit leerem Kopf saß Chanwaz da und hatte alles vergessen, seine Einsamkeit, die nächtlichen Schreie seiner Mutter, die widerwärtigen Gerüche des Hauses; er konzentrierte sich ausschließlich auf das saftige kalte Fruchtmark […] Dann legte er sich flach auf den Boden und schloss die Augen, um sich ganz auf den letzen Hauch Mango zu konzentrieren, bevor er einschlief.