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Eine Erzählung in jedem Wort

Beim Literaturherbst ging es auch um das politische Potenzial von Sprache und Literatur. Ingo Schulze demonstrierte die ideologische Kraft von Erzählungen und Kübra Gümüşay untersuchte Machthierarchien und das identitätsstiftende Potenzial der Sprache.

Von Lennart Speck

Der 28. und  29. Oktober 2020 standen beim Literaturherbst unter dem Zeichen der Sprache und ihrer Auswirkungen auf die Wahrnehmung. Die Autor:innen Ingo Schulze und Kübra Gümüşay reden und lesen über wichtige Themen der Gegenwart: Sie fragen sich in ihren Büchern, was die Erzählungen unserer Zeit sind, welche Wörter bestimmte Vorstellungen transportieren und wie diese unsere Gesellschaft formt.

 
Ingo Schulze und Stephan Lohr © Lennart Speck

Moderator Stephan Lohr begleitet Ingo Schulze durch sein neues Buch Die rechtschaffenen Mörder. Schulze, Autor der Bücher Peter Holtz, Adam und Evelyn und 33 Augenblicke des Glücks, hat damit einen Roman von unglaublicher Brisanz und Aktualität verfasst. Die Lesung beginnt wie der Roman mit der Beschreibung des Antiquariats von Nobert Paulini in Dresden-Blasewitz, das in der DDR zu einer eifersüchtig gehüteten Adresse für Literatur geworden ist. Paulini, selbst in Dresden-Blasewitz geboren, betreibt aufgrund einer unverhofften Erbschaft das Antiquariat seiner Mutter nach einer sehr langen Pause weiter und wird damit erfolgreich. Nach der Wende wird er aus seinem Haus geschmissen und zieht mit seinen Büchern an die Elbe, wo sie dem Jahrhunderthochwasser zum Opfer fallen. Daraufhin zieht Paulini in die Nähe von Bad Schandau und betreibt bis zu seinem Tod ein Online-Antiquariat. Schulze webt die Geschichte des Protagonisten und seines Meers an Büchern zu einer Legende. Er orientiert sich dafür stilistisch an Joseph Roth, den er, wie er das Publikum wissen lässt, gerne liest.

Das Buch hat drei Teile, die auf verschachtelte Weise Norbert Paulinis Geschichte erzählen.  So ist der erste Teil eine Novelle eines Autors namens Schultze, der im zweiten Teil auftaucht. Den dritten Teil erzählt dann eine dritte Person, die Verlegerin Schultzes, die zu verstehen versucht, wie es zu einer Rechtsradikalisierung Paulinis kommen konnte. Doch wie radikalisiert Paulini tatsächlich ist, bleibt bis zum Schluss offen, die Lesenden bleiben verunsichert zurück. Die Unklarheit, die sich beim Lesen einstellt, wird zum Hauptmotiv des Romans.

Das Fragile an der Wahrheit

Buch-Info


Ingo Schulze
Die rechtschaffenen Mörder
Fischer: Frankfurt am Main 2020
320 Seiten, 21,00 €

 
 

Der Roman, veröffentlicht pünktlich zum 30-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung, dreht sich so auch darum, wie sich ein bücherliebender Antiquar, offenbar weltgewandt und zu differenziertem Denken fähig, politisch rechts der Mitte radikalisiert. Er äußert sich in einem Gespräch mit Polizisten von »den Ausländern« und, dass sich »Vater Staat mal um uns kümmern könnte«. Weiter spricht er davon, dass »die aus jedem Schornstein ein Minarett machen würden«, gemeint sind hier offenkundig muslimische Menschen. Gerade die Verlegerin Schultzes bezeichnet Paulini daher als rechtsextrem. Die Antwort hingegen, die sie von Paulinis Nachfolger Juso Livnjak erhält, bringt dieses Bild immer mehr ins Wanken – eine Auflösung bleibt aus. Ingo Schulze fängt mit seinem Buch die gesellschaftliche und politische Stimmung im Jahr 2020 ein und liefert vielleicht Antworten auf viele Fragen, die in den letzten Jahren relevant geworden sind. Etwa danach, wie es dazu kommen konnte, dass die nationalistische Rechte wieder stark werden konnte oder dass es abgehängte Regionen im Osten Deutschlands gibt. Schulze zeigt sich wieder einmal als großer Erzähler der Wende und ihrer Nachwirkungen, wie schon zuvor in seinem Roman Neue Leben. Dieses Buch ist grandios aktuell und besticht in seiner Unklarheit, in der die einzige Gewissheit bleibt, dass jede Erzählung erodieren kann.

Schulze spricht selbst über die Paradoxe, die widerstreitenden Wahrheiten, die den Roman auszeichnen. Auch dem metafiktionalen Handgriff, dass der Autor im Buch Schultze heißt und der auf dem Cover Schulze, liegt ästhetische Motivation zugrunde, denn dadurch, dass sich der »Haupterzähler« Schulze vom »Nebenerzähler« Schultze nur gering unterscheidet und durchgehend kritisiert wird, vor allem von Paulini, hebt Schulze den Autor als unkritische Instanz von seinem Podest.

Der Wahrheitsbegriff wird von den Figuren des Romans selbst, vor allem auf der Ebene der Literatur, als ein unstetiger definiert. Oder wie Paulini es ausdrückt: Dichter müssten lügen, denn die Wahrheit sei zu langweilig. Deshalb passt der Roman auf unsere Zeit von dubiosen Online-Quellen und Verschwörungserzählungen: In der ganzen Erzählung passt nichts wirklich zusammen, am Schluss fällt jegliche Gewissheit wie ein Kartenhaus zusammen. Zurück bleibt eine Frage, die sich nicht nur im Zusammenhang dieses Romans stellt: Was stimmt hier eigentlich?

Ein Literat mit Meinung

Ein großer Teil dieses Abends beschäftigte sich auch mit der literarisch-politischen Debatte, in die sich Schulze in der Süddeutschen Zeitung mit einem Artikel einschaltete. Dreh- und Angelpunkt der Diskussion war Monika Marons Veröffentlichung in der Reihe »Exil« von Götz Kubitscheks rechtsgerichtetem Antaios-Verlag. Diese hatte den S. Fischer Verlag, bei dem auch Schulze unter Vertrag steht, zu einer Kündigung Marons veranlasst. Schulze kritisierte in der SZ beide Seiten. Bei der Lesung wiederholte Schulze sein Argument, man müsse wissen, wo man veröffentlicht, gerade bei einem Verlag, der sich in ideologische Nähe zur AfD und der Neuen Rechten verorte.

Die Lesung perpetuiert so die Brisanz und Aktualität von Die rechtschaffenen Mörder und fängt dominante Themen unserer Zeit auf: Wahrheit und Erzählung, beide sind fundamental wichtig für unsere Wahrnehmung unserer Umgebung. Die Wahrheit ist nicht fassbar und doch gibt es Akteur:innen, die diese für sich beanspruchen und aus ihr nicht ungefährliche Erzählungen knüpfen. Diese Erzählungen sind nicht nur der Motor für unsere Gesellschaft und wie wir sie uns vorstellen, sondern sie schaffen Identität.

Macht – Sprache – Individualität

Buch-Info


Kübra Gümüşay
Sprache und Sein
Hanser Berlin: Berlin 2020
208 Seiten, 18,00 €

 
 
Eben dieser Frage nach dem Verhältnis von Identität und Erzählung geht Kübra Gümüşay in ihrem Buch Sprache und Sein nach. Gümüşay zeigt darin auf, welche Machtverhältnisse und Ausgrenzungspraktiken durch Worte (re)produziert werden. Sie beschreibt im ersten Teil ihrer Lesung verschiedene Sprachen, die anders agieren als das Deutsche, Englische oder Türkische – so zum Beispiel eine, die wohl kaum jemandem bekannt ist: Kuuuk Thaayorre. Die von australischen Aborigines gesprochene Sprache orientiere sich nicht über Begriffe wie links oder rechts, sondern nur über die Himmelsrichtungen. Durch das Sprechen in Himmelsrichtungen werde den Thaayorre eine Art zu denken beigebracht, die ihnen verdeutliche, dass sich die Welt nicht um sie drehe, sondern sie ein Teil ihrer seien. Diese Sprache, so Gümüşay, mache es möglich, anders auf die Welt zu schauen, was sie an der Wahrnehmung der Zeit festmacht. Wir würden die Zeit von links nach rechts wahrnehmen, für die Thaayorre seien hingegen auch andere Richtungen denkbar. Gümüşay deckt außerdem koloniale Denk- und Hierarchisierungsmuster in der Sprache und damit auch im Denken auf, indem sie auf die Wahrnehmung hinweist, die wir gegenüber bestimmten Sprachen hegen. Als Beispiel nennt sie das Französische, das besser angesehen ist als das Türkische oder Arabische. Erfrischend ist, dass sie andere Sprachen heranzieht, um andere Möglichkeiten einer sprachlichen »Architektur« in ihr Denken miteinfließen zu lassen.

Sprache als Mittel zur Gestaltung der Gesellschaft

Das ist der Haupttenor dieses Buches: Das Sprechen ist als individueller Akt immer Kategorisierungen unterworfen und formt das Denken. Deswegen argumentiert Gümüşay, dass neue Sprachen neue Sichtweisen entwickeln können. Sie zieht für ihre Theorie der identitätsstiftenden Kraft der Sprache zahlreiche andere Denker:innen heran. So zeigt sie uns mit Georg Steiner, dass Sprache das Denken schaffe und mit Kurt Tucholsky richtet sie auch den Blick auf die Gewalt. Dies nutzt sie für ihre Schlussfolgerung, dass die Sprache zugleich öffnen und begrenzen könne.

 
Kübra Gümüşay liest aus Sprache und Sein © Lennart Speck

Sprache verändere sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen und dadurch auch das Sein und das Fühlen. So wurde etwa das Wort Belästigung früher euphemistisch verwendet und stand für ein vermeintliches Lob vom Chef gegenüber der Belästigten. Durch die (zum Glück eingetretene) Stärkung von Frauenrechten ist dies heute nicht mehr euphemistisch als Lob codiert, sondern als unerwünschter Übergriff. Diese sprachliche Änderung habe unter anderem auch dazu geführt, dass die #metoo-Debatte gesellschaftlich durchbrechen konnte.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr Sprache die Wahrnehmung ändern kann, ist die immer noch aktuelle Debatte um geschlechtergerechte Sprache. Gümüşay nutzt ein Beispiel, das zeigt, wie Sprache gesellschaftliche Rollenbilder weiter zementieren kann: »Ein Junge wird in ein Krankenhaus eingeliefert, sein Vater ist am Unfallort gestorben, der Chirurg kann den Jungen nicht operieren: Dieser Chirurg ist seine Mutter.« Hier zeigt sich, wie die Sprache Wahrnehmung ändert, und dabei auch gesellschaftliche Gruppen ausschließen kann.

Das Museum der Sprache

Gümüşay entwirft ein »Museum der Sprache«, das sich in zwei Kategorien aufteilt: die Benennenden auf der einen und die Benannten auf der anderen Seite. Die Benennenden sind Menschen, die Minderheiten beschreiben und sie dadurch in einen Rahmen sperren, aus dem sie sich nicht befreien können. Die Benannten sind wiederum die, die in einem hierarchisch untergeordneten Verhältnis zu den Benennenden stehen und sich nicht wehren können. Das Individuelle ist im »Museum der Sprache« fehl am Platz, weil kein Ausbruch aus den Kategorien gestattet ist. Alle werden zu Kollektivwesen im Sinne der Benennenden. Hier zeigt sich, wer Macht über wen hat, wie Sprache Kategorien und Hierarchien schafft, aus denen die Untergeordneten kaum ausbrechen können.

Das Gespräch zwischen Kübra Gümüşay und Amina Yousaf beginnt damit, dass die Moderatorin eine Beobachtung mit dem Publikum und Gümüşay teilt: Sie erzählt, dass Klaus Kleber mittlerweile von Expert:innen spreche und nicht mehr nur von Experten, es würden also mehr Mitglieder der Gesellschaft in die Berichterstattung aufgenommen. Daran zeigt sich, was vielen Sprachpurist:innen nicht gefällt: Sprache ist ein wandelbares Phänomen, sie ist nicht in Stein gemeißelt, sondern einem stetigen Wandlungsprozess unterworfen.

Ambiguitätstoleranz als Fundament

Reihe


Vom 17. Oktober bis 1. November 2020 fand der 29. Göttinger Literaturherbst statt. Litlog veröffentlicht ab jetzt jeden Werktag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms.
Hier findet ihr die Berichte im Überblick. Bis zum 30. November könnt ihr die Lesungen außerdem in der Mediathek des Literaturherbsts ansehen.

 
 

Gümüşay formuliert bei der Veranstaltung ein Problem: Sie kritisiert Kategorien, gesteht aber auch ein, dass Menschen ohne diese nicht auskommen. Dies ist eine sehr gute Erkenntnis, denn Sprache und Sein ist der Versuch, Erzählungen aufzudecken und neu zu denken, aber trotzdem nicht eine neue Erzählung per se zu erfinden und dieser einen hegemonialen Charakter zu geben. Wir müssen uns als Menschen, so resümiert Gümüşay, unserer Begrenztheit bewusstwerden und verstehen, dass produktiver Diskurs nur möglich wird, wenn wir miteinander reden. Nur wenn wir in einen Dialog treten, können wir Perspektiven ausmachen und feststellen, dass alle Menschen gleich sind.

Die beiden Abende verbinden die Überlegungen zur Macht von Sprache und Erzählungen und konkretisieren diese. Narrative prägen unsere kommunikativen und gesellschaftlichen Strukturen. Erst wenn jede:r Freiheit in der Sprache genießt, funktioniert auch die Demokratie, und nur dann kann sie auch identitätsstiftend wirken, das bringt Gümüşay bei ihrer Lesung auf den Punkt.  Und auch das ist wiederum keine Wahrheit, sondern eine Meinung. Beide Autor:innen stellen differenziert dar: Die Gesellschaft ist komplexer, als sie in einem Roman oder einer Theorie dargestellt werden kann. Und das müssen wir aushalten.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 16. November 2020
 Via Pixabay, CC0 / © Lennart Speck
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