Freude und Trauer lagen dicht beieinander beim zehnjährigen Jubiläum des Literarischen Zentrums im Deutschen Theater. Fünf Stimmen der Litlog-Redaktion geben Eindrücke wieder.
von Leonie Krutzinna
Das Literarische Zentrum wird 10. Geburtstage sind schwierig, zumal wenn es runde sind. Auch im Deutschen Theater beschleicht mich das Gefühl, dass hier an der Festtafel zwei Fraktionen sitzen, die Freunde und die Verwandten. Vor allem für letztere ist der Abend gemacht, für die Zentrums-Familie. Man kennt sich halt, man erinnert sich. Lars Brandt hat bereits vor zwei Jahren in Göttingen aus »Gold und Silber« gelesen, deshalb muss man gar nicht mehr erwähnen, worum es im Buch geht. Die Freunde der Literatur dürften sich ob des skurril zusammengestellten Programms befremdet fühlen. Der Rest ist name dropping via Powerpoint.
Von Anfang an ließ mich der Titel der Abendveranstaltung Thomas Vinterbergs Dogma ’95-Film »DAS FEST« assoziieren. Da geht es um die Lebenslüge im bürgerlichen Milieu, um es ganz zaghaft zu formulieren – oder etwas drastischer: um Inzest. Und ja, ein bisschen inzestuös mutet sie schon an, die Zentrums-Familie in Göttingen. Trotzdem beeindrucken all die Namen und Köpfe, die da per Beamer an der Bühnenwand vorbeiziehen. Inzest ist auch fruchtbar.
Hauke Hückstädt hat in Göttingen »begehbares Feuilleton«1 gemacht. Viele Schritte braucht man zwar nicht, um diese enge Dachgeschosswohnung zu durchmessen, in der das Literarische Zentrum zu Hause ist. Aber, so lautet der Slogan des Zentrums mit dem defensiven Gestus der Provinz: »Die Metropole ist im Kopf oder nirgends«.
Prime Timevon Christian Volmari
Aufmerksamkeit ist ein scheues Reh. Es braucht keinen Schuss, um sie aufzuschrecken und ans andere Ende des Waldes zu treiben. Es reicht schon das kleinste Zucken im Unterholz, ein leiser Wind, der schiefe Blick einer Ameise. In den gefühlten dreihundert Metern Luftlinie zwischen der Bühne und dem zweiten Rang wimmelt es von Ameisen. Es hängt in diesen dreihundert Metern ein gigantischer Kronleuchter, der fortwährend und gefährlich wackelt, und – soweit ich das sehen konnte – nur von einer dünnen Eisenkette gehalten wird. Tief unter diesem Kronleuchter sitzen viele bekannte Hinterköpfe, von denen bald der eine müde nach hinten abknickt, bald der andere sich unruhig zwischen Uhr und Toilette windet. Es finden sich dort Deckenmalereien und architektonische Besonderheiten, es flimmern bunte Lichter und Handydisplays.
Was dieses penetrante Grundrauschen zwischen Bühne und zweitem Rang durchdringt, sind allenfalls noch die formalen Aspekte dessen, was dort auf der Bühne geschieht, seien das Zagajewskis polnischer Dialekt oder die physiognomischen Ähnlichkeiten zwischen Lars Brandt und seinem Vater. An solchen formalen Aspekten gemessen überzeugt an diesem Abend niemand mehr als Jodie Foster, pardon, ihre Synchronstimme Hansi Jochmann. In dem Tohuwabohu aus hyperaktiven Hinterköpfen, neorenaissancistischer Architektur und inhaltsschwerer Lyrik stiftet ihre Stimme einen Ort des Rückzugs, Panic Room und Flightplan in einem. Der Zuschauer darf die Augen schließen, er muss nur noch zuhören, oder vielmehr: hinhören.
Jochmann rezitiert Gernhardt, Sebald und andere inzwischen verstorbene Zentrums-Gäste, und weil ihre Lesung so auch zur literarischen tour de force gerät, ist die Paradoxie so schön: Während sich Kapielski oder Palminger subversiv geben wollen, dem Göttinger Bildungsbürgertum einen Bauernschrank vors Gesicht hauen oder über Elektrobeats aus dem Mp3-Player nuscheln, da kann Jochmann überhaupt nicht anders als mit eben jener Stimme zu sprechen, die den Rezipienten in ganz andere Kontexte setzt – zum Prime-Time-Blockbuster aufs heimische Sofa, mit Fernbedienung in der rechten, Pizza in der linken Hand und den Füßen auf dem Wohnzimmertisch.
Totenfeiervon Kai Sina
Apropos Möbel: Der alte Bauernschrank, den Kapielski hat umfallen lassen, war ja wohl nicht nur als simple Provokation gedacht. Rumpelnde Schränke, so weiß der Aberglaube, verheißen in der Regel Unheimliches: Geister machen sich bemerkbar, Todesfälle kündigen sich an. Bei der Feier zum zehnjährigen Jubiläum des Literarischen Zentrums leitete der krachend umfallende Schrank eine veritable Totenfeier ein.
Die Schauspielerin und Synchronsprecherin Hansi Jochmann verlieh im abgedunkelten Raum des Deutschen Theaters ihre Stimme jenen Autoren, die in den letzten zehn Jahren in Göttingen zu Besuch waren, zu diesem festlichen Stelldichein jedoch nicht mehr persönlich erscheinen konnten; die ganz in schwarz gekleidete Frau begab sich in die Rolle eines Mediums, das den ehemaligen Gästen – Adolf Endler, Oskar Pastior, Walter Kempowski, W.G. Sebald, Robert Gernhardt – ihre Stimme lieh. Die Kommentierung der ausgewählten Textabschnitte durch Hauke Hückstädt, die Jochmann vor jedem neuen Abschnitt verlas, diente als liebevolle Anrufung der Toten.
Und sie ließen sich dann auch tatsächlich bitten: Pastiors metafiktionale Sprachmusik, Kempowskis Gedanken über eine Sandbank, die poetologischen Reflexionen des Literaturwissenschaftlers Sebald, Gernhardts spöttelnd-skeptischen Verse über Günter Grass erklangen durch Jochmann aus dem Off. Was hier veranstaltet wurde, war nichts weniger als eine Séance, eine okkultistische Performance, an der bestimmt nicht nur das Publikum seine helle Freude hatte. Und wenn man dann, vielleicht kurzzeitig selbst in Trance, die Augen schloss, stand da auch noch Jodie Foster auf der Bühne, deren deutsche Synchronisationen seit Jahrzehnten schon von Jochmann gesprochen werden.
Man konnte an diesem Abend also buchstäblich Unerhörtem beiwohnen: Kempowski aus dem Munde der FBI-Sonderermittlerin Clarice Starling. Das Schweigen der Dichter: Es wurde an diesem Abend zumindest kurzfristig aufgehoben. Literaturvermittlung? Mindestens!
Druck, Druck, Druckvon Gesa Husemann
Melancholisch die Stimmung des Abends, Abschied das eigentlich »festliche« Motto. Ein inhaltlich schwerwiegender Abend, mit dem das Literarische Zentrum sein zehnjähriges Bestehen feiert, und Hauke Hückstädts Abschied betrauert. Schwierig, dies in einem Abendprogramm zu vereinen. Nach Adam Zagajewski und Lars Brandt kommt der versuchte Ausgleich: Thomas Kapielskis »Schranknummer« spendet vor der Pause einen erheiternden Augenblick – umgehend wieder zu Grabe getragen von Hansi Jochmanns Hommage an verstorbene Zentrumsgäste.
Und was macht Schlusslicht Jacques Palminger mit so einem Abend? Er reiht sich mit der melodisch fast tränentreibenden »deutsche(n) Frau« zum Auftakt erst einmal vorsichtig in die Stimmung ein. Und bricht endlich mit ihr. Jacques Palminger und Rica Blunck alias »Ricciolina the Queen of Dub Rock« mucken auf, holen den »Specht aus der Tanne«, schmeißen »den Toast auf die Taube« und wollen »drei Dinge etablieren: Druck Druck Druck«. Mit mäßiger Erfolgsresonanz.
Erstarrte Minen, pikierte Nasenrümpfer als höchster Ausdruck der Gefühle – Palmingers Druckwelle prallt an den betonversteinerten Erstreihlern ab, die Ausbreitung scheint unmöglich, glücklicherweise bahnt sich die Welle aber doch einen Weg zu den hinteren Reihen. Offensive Druckbetankung mit Redestrudeln und Extremchansons erregen wohl nicht jedes Gemüt. Meines schon. Mit dicken Beats und »regressiv-maskulinen Angstszenarien« wollen Palminger und Blunck das Publikum aus dem stillen Loch buffen –
und fallen manchmal selbst hinein. Dieser Auftritt macht Brüche sichtbar im Publikum, zwischen den steif gebügelten Spitzenkulturbetrieblern und dem diversen Rest der Zuschauer und Zuhörer. Stumme Reaktionslosigkeit, abgesehen von dem regelmäßigen Blick auf die Uhr, auf der einen Seite, sich nur langsam emanzipierende Reaktionen auf der anderen.
Für mich war die absurde Komik Palmingers umso effektvoller, hatte sie doch in den stillen Löchern besonders viel Platz, ihre Wirkung auszubreiten. Der Versuch, das Publikum mit dem »Lied für alle«, (»Das ist das Lied für jeden Menschen auf der ganzen Welt, auch für dich!«) zu vereinen, schlug irgendwie auch fehl.
Letztlich schmissen aber doch alle Fraktionen gemeinsam den »Fuchs aufs Gleis« und nahmen Abschied, vom Zentrum wie es war, und wie es ohne Hauke Hückstädt sicher nicht mehr sein wird. Manchen fiel der Abschied vielleicht nicht schwer. Andere verweigerten ihn erstmal und ließen sich Zeit mit diesem Schritt bis in die frühen Morgenstunden.
Abwegige Nachtgedanken über ein Göttinger Literaturhausvon Peer Trilcke
Wenn das immer weiter geht,
werden wir auch immer weiter gehn.2
Auch wenn diese Zehn-Jahres-Feier schließlich in einer alles andere als nüchternen Nacht endete: Nüchtern betrachtet, so dachte ich mir während der zu abschweifenden Gedankengängen einladenden Lesung des, wie ich jetzt weiß, insgesamt sicher überschätzten Lars Brandt – nüchtern betrachtet, geht es bei Literaturhäusern doch schlicht um das, was man gemeinhin ›Literaturvermittlung‹ nennt. (Auch wenn sich das immer ein wenig nach dem »Fräulein-vom-Amt« anhört, aber nun denn.)
Vermittlung jedenfalls ist Programm, ist gewiss gutes Programm, zumal in diesen medialen Zeiten, von denen allerorts die Rede geht. Und welche Institution könnte denn bitte besser für Vermittlung einstehen als ein Haus, das sich ebenso frei wie frech »Literarisches Zentrum« nennt. Als gäbe es da neben Wernicke-Zentrum, Broca-Zentrum oder Brechzentrum in unser aller Hirnen noch ein Literarisches Zentrum; und als habe sich dieses Literarisches Zentrum, Zufall hin, Zufall her, just in Göttingen aus seinem zerebralen Schalendasein befreit und in einem metropolitanen Hinterhof der Düsteren Straße, gleich gegenüber der Paulaner Gaststätte materialisiert: »Die Metropole ist im Kopf oder nirgends«, lese ich (Lars Brandt liest noch immer vor und wohl auch für sich dahin) auf den Zentrums-Fahnen, die die Bühne des Deutschen Theaters heute gleichsam zum exterritorialen Gebiet erklären.
Was allerdings bleibt, ist die Frage nach der Literaturvermittlung. Recht einfach beantworten lässt sie sich, geht man die Sache kommunikationstheoretisch an. Sender – Kanal – Empfänger: Erst die Literatur, die Literaten. Dann der unidirektionale Kanal. Schließlich wir, die Leser, Hörer, Besucher, die seit Jahren ins Zentrum strömen und dort Literatur, Literaten empfangen; und dieses Literarische Zentrum, das (kaum Zufall noch: am Leinekanal gelegen, ach »Venedig des Nordens«) ist dann wohl der Kanal. Doch natürlich ist das falsch oder doch zumindest zu einseitig, zu einfach, scheint mir, während (Lars Brandt ist längst Geschichte) Hansi Jochmann eine handvoll Texte aus dem Totenreich vorträgt, darunter ein Gedicht des 2006 verstorbenen Oskar Pastior. »immer« der Titel.
immer
das gedicht gibt es nicht. es
gibt immer nur dies gedicht das
dich gerade liest. aber weil
du in diesem gedicht siehe oben
sagen kannst das gedicht gibt
es nicht und es gibt immer nur
dies gedicht das dich gerade
liest kann auch das gedicht das
du nicht liest dich lesen und
es dies gedicht hier nur immer
nicht geben. beide du und du
lesen das und dies. duze beide
denn sie lesen dich auch wenn
es dich nicht nur hier gibt3
Neben Pastiors »fernsehgedicht«4 (»im fernsehgedicht sitzt der verfasser des gedichts vor dem bildschirm und läßt sich vom leser seines gedichts der auf dem bildschirm zu sehen ist wort für wort sein auf diese weise zustandekommendes gedicht diktieren …«) – neben diesem »fernsehgedicht« ist Pastiors »immer« für mich seit langem ein lyrisches Mirakel: ein Karneval der Kommunikation, wie vielleicht nur Literatur ihn möglich macht.
Und plötzlich sitze ich da, in meinem Deutsches-Theater-Plüschsessel, und frage mich, ob es über all die Zehn-Zentrums-Jahre hinweg nicht andersherum lief: Ob es nicht die Literatur, die Literaten waren, die – verschmitzt wie in Pastiors Gedicht – uns Leser, Hörer, Besucher gelesen haben. Spontan bemühe ich mich, für den Rest des Abends eine möglichst hermetische Figur abzugeben.
Nach lustvollem Umtrunk, auf dem Heimweg schließlich, weiß ich nicht mehr, was es auf sich hat mit dieser Sache namens »Literaturvermittlung«. Fühle mich nur gelesen von diesem und diesem Gedicht. Weiß nur, dass dieses Zentrum kein Kanal, sondern Drehscheibe, Schaltstelle, Sender und Empfänger ist. Und »wenn das immer weiter geht, werden ich auch immer weiter gehn.«