An Dietmar Daths Schreiben kann man sich lange reiben, denn verstehen tut’s keiner so richtig. Im Roman Neptunation erzählt der diesjährige Inhaber der Lichtenbergpoetikdozentur zwischen Fortschrittsoptimismus, Utopie und Blockbusterfeeling eine optimistische Weltraumodyssee.
Von Laurenz Pothast
In einem Interview hat Dietmar Dath einmal gesagt, dass er Geschichten schreibe, wenn er Grundsätzliches zum Ausdruck bringen will. Sein noch halbwegs neues Buch – der hypnophobe Autor hat dieses Jahr bereits neue Fiktion sowie eine tausendseitige Geschichte seines Genres Science-Fiction abgeliefert – heißt Neptunation (englische wie deutsche Aussprache intendiert). Man sollte das Grundsätzliche hier durchaus ernst nehmen. Dafür gilt es, sich durch einen Diskursdschungel zu kämpfen, neben dessen hohem Anspruch die spannungserzeugenden Ballerszenen beizeiten unpassend wirken. Neptunation ist gleichzeitig Action- und Gespenstergeschichte, Kulturpanorama, Utopie, philosophische Abhandlung, Kommunismusverteidigung, Satire und nicht zuletzt, aber irgendwie auch nicht zuallererst, Science-Fiction. Dath will höchste Hirnstimulation mit kurzweiliger Unterhaltung verbinden. Das gelingt immer dann, wenn es nicht zu didaktisch wird, denn hier sind alle Figuren (außer den Bösen) so roten Bluts wie der überzeugte Salonkommunist. Aber von vorne.
Kulturpanorama im WeltallGerade rechtzeitig vor dem Ende des real existierenden Sozialismus haben die Sowjetunion und die DDR eine Rakete mit glühenden Sozis an Bord ins Weltall geschickt, um empirische Erkenntnisse über Naturgesetze und vielleicht auch extraterrestrisches Leben zu sammeln. Missionsergebnis: unbekannt, verschollen. Dreißig Jahre später schickt ein ungewöhnliches Bündnis von chinesischem und bundesdeutschem Militär zwei neue Schiffe hinterher. Dieses Band wurde geschmiedet von der mit übermenschlichem Wissen und kommunistischer Vision gesegneten Cordula Späth, die in klassischer Hollywoodmontage inklusive erster Schießereien, Schlägereien, Stechereien das übliche Dath-Personal, also ein international, beruflich, biografisch und auch sonst diverses Eliteteam, zusammenstellt, um das sich die folgende Reise dreht.
Bis man im Abenteuer landet, gilt es, sich die Zeit totzuschlagen. Im chinesisch-deutschen, vor allem aber kommunistischen Raumschiff (überraschende lingua franca: Deutsch!) rezipiert man daher, als sei es so leicht zugänglich wie die ausgiebig beschriebenen Essensschnappschüsse à la Instagram, westliche und östliche Kulturgeschichte, bildende Kunst, Pop und Metaphysik, US-amerikanisches, chinesisches und japanisches Kino, marxistische Theorie und ihre unterschiedliche Auslegung von der Sowjetunion über den Großen Sprung nach vorne bis zum turbokapitalistischen gegenwärtigen China. Und mehr.
Grenzüberwindend: Raumfahrt und SpracheNeben diese mehr oder minder zugänglichen Abhandlungen, in denen die Leser*innen wenigstens manchmal an die Hand genommen werden, treten die Entdeckung abstrakter, unbiologischer Lebensformen und grenzsprengende physikalisch-philosophische Überlegungen, die über die im Genre übliche Nostalgie hinausgehen. Ohne Vorbildung am besten im Bereich diskreter Mathematik, Quantenmechanik und mehr erscheinen einige Passagen unverständlich. Das ist allerdings nicht schlimm, denn Science-Fiction weist ja, wie der Autor gerne betont, auf die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit hin. Man braucht das naturwissenschaftlich aufgeladene Geschwurbel also nicht verstehen, um es als mathematische, sehr ernste Scherze in sprachlicher Form einordnen zu können, genauer noch: Was hier eigentlich Grenzen überwindet, ist die Sprache, nicht die Naturgesetzlichkeit. Es handelt sich um eine Poesie der naturwissenschaftlichen Grenzüberwindung. Extraterrestrisches Leben klingt dann so:
Was da lebt, ist kein ›Wesen‹ im menschlichen Sinn, eher ein Empfinden in Segmenten von Kausalketten unendlicher Feinheit, ein energetischer Austausch durch Venen- und Kapillarsysteme, die sich auf den Kämmen der Gravitationswellen einander fernstliegender astronomischer Objekte treffen.
Tatsächliche Beweisführung bleibt glücklicherweise aus, auch wenn wir uns sicherlich ein paar handfestere Beiträge zur Weltformel gewünscht hätten als den Hinweis, dass es mal wieder an der Zeit wäre, bemannte Missionen ins Weltall zu schicken. Das scheint Dath aber ganz ernst zu meinen: Vor dem Hintergrund eines in der Stabilität seiner Atmosphäre bedrohten Planeten Erde soll im Weltall Erkenntnis gesammelt werden, die dazu beitragen kann, die Bedingungen für menschliches Leben auf der Erde nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern auch weiter entscheidend zu verbessern. Und das nicht nur in technisch-naturwissenschaftlicher Hinsicht, sondern auch in untrennbar damit verbundener Gesellschaftsform.
Phasenweise utopischNeptunation spielt zwar weitab von der Erde. Das Weltall wird allerdings schnell zum Spiegel aus der bald zeitlich wie räumlich weit zurückliegenden Heimat stammender Probleme und (Macht-)Spielchen. Die einen können ihre politischen Überzeugungen nicht ablegen, die anderen denken zu kurz, wenn sie nur auf Erkenntnisgewinn schauen. Weil man auf großer Mission ist, gilt es ganz nietzscheanisch, von persönlichen Bindungen über politische
Je weiter diese sich bewegt, desto mehr nähert sie sich der Vision und dem Traum an, den die Figuren synmathematisch wie -ästhetisch erleben. Ein dem Text als Motto vorangestellte Sonic-Youth-Zitat: »All coming from female imagination« verwirklicht sich in starken, schöpferisch-demigöttlichen Frauenfiguren – neben der bereits erwähnten Späth insbesondere einer aus dem Sowjet-DDR-Raumschiff stammenden 80s-Punkerin namens Alexandra Burkhard. Aus dem ansonsten gleichwertig behandelten Figurenpersonal tritt als deren besonderer Schützling immer stärker Christian Winseck hervor, ein softer, dichterisch veranlagter Linguist mit ödipalem Komplex. Als bürgerlicher Intellektueller muss er in den Tiefen des Weltraums von seinem metaphysischen Skeptizismus gereinigt werden, um zu akzeptieren, dass er für die echte demokratische, ergo kommunistische Weltordnung kämpfend eintreten muss.
Zwar partizipieren die Figuren an verschiedensten Diskursen, aber man meint immer wieder, den studierten Physiker im Autor selbst sprechen zu hören. Der Eindruck verstärkt sich, wenn die Figuren einander auch in ihren kommunistischen Reden mehr ergänzen als einander abwechseln oder wirklich streiten. Obwohl die Wissenschaftsfiktionen in ungewohnter, grenzüberschreitender Sprache besprochen werden, ist der Roman an sich konventionell erzählt. Dath beherrscht sein Handwerk, für genug Plotspannung zu sorgen, damit der Lesefluss über die komplexen Weltraumphantasmen hinweg bestehen bleibt.
Eine forderndes und unterhaltendes BuchDer Roman endet, so viel sei verraten, nicht im Paradies. Dath ist zu gewitzt, als dass er es sich so einfach machte. Was er sich am meisten neben einigen Exkursen etwa zur theoretischen Unterfütterung der Greueltaten im China zu Zeiten Mao Zedongs hätte sparen können, ist der Untertitel »Naturgesetze, Alter!« Die überfordernden naturwissenschaftlichen Exkurse etwa zu »Informationsmanipulationen von Wahrscheinlichkeitsamplituden von Hirnvorgängen vor der Dekohärenz« sind allerdings sprachlich ansprechend genug, um sie irgendwann scherzhaft-resigniert hinzunehmen. Die Dath-Lektüre ist spannend genug, um am Ball zu bleiben, und so fordernd, dass man sie als Denkanstoß verstehen muss, ohne dem Genosse-Oberlehrer in jeder Hinsicht zu folgen. Sie bleibt dezidiert fortschrittsoptimistisch und über das, was Dath zum anthropologischen Entwurf der Gegenwart und ihrer Literatur zu sagen hat, lohnt es sich, weiterhin nachzudenken.