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Wissenschaftliche Rezension
Erzählen im Film

Das filmische Phänomen des mindfuck, narratologisch betrachtet: Der Sammelband Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik (2009), herausgegeben von Susanne Kaul, Timo Skrandies und Jean-Pierre Palmier, untersucht Filme unter dem Gesichtspunkt des unzuverlässigen Erzählens.

Von Anton Dechand

Das Kino der späten neunziger Jahre kennzeichnet ein Schub von Filmen, die das Internet etwas unpräzise, nichtsdestotrotz passend mit dem Namen mindfuck belegt. Regisseure wie Michael Haneke, Christopher Nolan, M. Night Shyamalan, David Fincher schufen ebenso faszinierende wie verstörende Filme, aus denen der Zuschauer nicht sofort schlau wurde. Filme, die Schlusspointen aufweisen, die mit dem Rest der Geschichte nicht übereinstimmen und konventionelle Seherwartungen unterlaufen; zum Beispiel, wenn Personen plötzlich als fiktiv entlarvt werden oder Ereignisse nie so stattgefunden haben, wie sie eben noch erzählt wurden. Ein sehr eindringliches Beispiel hierfür ist Michael Hanekes Caché (2005), in dem einem Ehepaar anonyme Videoaufnahmen ihres Hauses zugestellt werden. Verstörend daran ist, dass die Herkunft der Aufnahmen nie geklärt werden kann – obwohl sie aus einem Winkel aufgenommen wurden, in dem man den verantwortlichen Kameramann eigentlich sehen können müsste. Hier ist etwas faul an der Erzählung. Dies lenkt den Blick auf jene Form filmischen Erzählens, dem sich der hier zu besprechende Band schwerpunktmäßig widmet.

Aufbau und Zielsetzung

Der im April 2009 erschienene Sammelband Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik, herausgegeben von Susanne Kaul, Timo Skrandies und Jean-Pierre Palmier, untersucht Filme unter den Gesichtspunkten des unzuverlässigen Erzählens und der Audiovisualität. Er geht zurück auf die Tagung Filmnarratologie im Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) vom 16. bis 18. April 2008.

In Filmen wird Information auf verschiedenen Ebenen vergeben: durch Kamerabilder, eine Erzählerstimme, die Figuren, durch Musik und sonstigen Ton. Bei den oben genannten Beispielen liegt die Raffinesse darin, dass die Informationskanäle Unvereinbares produzieren. Das Einzelbild widerspricht dem Erzählfluss, das Gesagte weicht von der visuellen Evidenz ab. Der Terminus der Unzuverlässigkeit verweist damit immer auf die Frage nach der »Verbindlichkeit und Verlässlichkeit [der] einzelnen Narrationskanäle« (Einleitung S. 9). Behält etwa die Bilderkette die Deutungsmacht über die Erzählung oder wird sie durch Ton oder Figurenrede unterlaufen?

Die vierzehn Beiträge sind, dem Titel entsprechend, in drei Kapitel unterteilt und gehen darauf ein, wie Unzuverlässigkeit, Audiovisualität und schließlich Musik das filmische Erzählen beeinflussen können. Die Analysen decken ein weites Feld ab und beziehen sogar Musikvideos (Rosenstolz und Nickelback) sowie Sitcoms mit ein. Das zentrale Bemühen des Bandes besteht darin, die Anwendung narratologischer Analyse-Instrumentarien auf das Medium des Films voranzutreiben, besonders im Hinblick auf filmische Unzuverlässigkeit. Der Band schreibt sich damit in das seit einigen Jahren etablierte Forschungsfeld der intermedialen Erzähltheorie ein.1

Unzuverlässigkeit und Unentscheidbarkeit

Der Band wird von einem grundlegenden Beitrag von Michael Scheffel eingeleitet, der die intermediale Anwendung der Narratologie reflektiert. Er untersucht die Übertragbarkeit von Kategorien wie histoire und discours und vor allem der narrativen Instanz des Erzählers auf den Film. Er verdeutlicht seine Überlegungen am Beispiel von Stanley Kubricks Literaturverfilmung Eyes Wide Shut (1999), die er mit Arthur Schnitzlers literarischer Vorlage, der Traumnovelle (1896), abgleicht.

Weitere Grundlagen schafft Robert Vogt (»Kann ein zuverlässiger Erzähler unzuverlässig erzählen? Zum Begriff der ›Unzuverlässigkeit‹ in Literatur- und Filmwissenschaft«), der in anschaulichen Beispielanalysen vorschlägt, zwei verschiedene Arten von Unzuverlässigkeit im Film anzunehmen: Einerseits kann ein mangelhafter Erzähler vorliegen, dessen Äußerungen und Weltsicht durch andere Personen oder durch konkurrierende Bilder diskreditiert werden. Andererseits kann es, wie in David Finchers Fight Club (1999), einen Makel in der Diegese geben, eine falsche Wahrnehmungsweise der Fokalisierungsinstanz.

Die Unterscheidung verschiedener Arten der Unzuverlässigkeit wird im Folgenden auch von Susanne Kaul verfolgt, die dafür plädiert, narrative Unentscheidbarkeit als Kriterium für Unzuverlässigkeit zu etablieren. Demnach könnte man in teilweise unzuverlässig sowie in streng unzuverlässig erzählte Filme unterteilen, »deren Ungereimtheiten sich nicht auflösen lassen, so dass unklar bleibt, was denn nun eigentlich Sache ist« (62). Durch »Vermischung der Objektebene und der Metaebene« (65) werden die Bilder unerklärlich, der Film in seiner Bedeutung insgesamt offen.

Buch-Info

Susanne Kaul, Jean-Pierre Palmier, Timo Skrandies (Hg.)
Erzählen im Film.
Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik.

Bielefeld: Transcript.
280 Seiten, 27, 80 €.

 

Herausgeber-Info

Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier lehren Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Timo Skrandies lehrt Medien- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

 
 

Jean-Pierre Palmiers Beitrag (»Gefühle erzählen. Narrative Unentscheidbarkeit und audiovisuelle Narration in Christoffer Boes Reconstruction«) schlägt einen schönen Bogen zum zweiten Teil des Bandes, der sich der Audiovisualität widmet. Er verbindet in seiner Analyse die Kategorie der Unzuverlässigkeit mit der »audiovisuelle[n] Narration«. Ihm geht es um ein unentscheidbares Erzählen, das »der Kern unzuverlässigen Erzählens« ist, da die »Erzählung inkohärent oder inkonsistent bleibt und den Leser oder Zuschauer zunächst vor ein Rätsel stellt« (143f.). Er unterscheidet ein audiovisuelles Erzählen, das nicht auf Handlungslogik aus ist, sondern Atmosphäre schafft, den Zuschauer emotional involviert und so auf einer anderen Ebene Kohärenz erzeugt und verstanden werden kann (durch Töne und Musik). »Wer sich darauf einlässt, dass unentscheidbar bleibt, welche Szene nun eigentlich zur Geschichte gehört, weil jede Variante ontologisch real ist in der erzählten Welt, erfährt die psychologische Tiefe der Darstellung«(149).

Fazit

Allgemein finden sich in dem vorliegenden Band viele erhellende Detailanalysen, die immer wieder die Differenz oder Ähnlichkeit zur Literatur zeigen (ausdrücklich etwa im Beitrag von Gudrun Heidemann »Narrative Duplikate – Dostojevskijsche Schein- und Seinskämpfe in Finchers Fight Club«), darüber hinaus einige überaus anregende Untersuchungen zur Audiovisualität (Erzählstimme, Verhältnis von Ton und Bild, narratologische Qualität von Musik).

Zu kritisieren ist dagegen der Aufbau des Bandes. Es wird eine klare Gewichtung auf die Unzuverlässigkeit gelegt, der sieben Untersuchungen gewidmet sind. Die Grenze zwischen Teil eins und zwei (Unzuverlässigkeit und Audiovisualität) erscheint nicht hinreichend  trennscharf, schließlich ist filmisches Erzählen immer schon audiovisuelles Erzählen. Hier geschieht auch der Bruch zu generellen, eher rudimentären Aussagen zur Funktion musikalischen und audiovisuellen Erzählens. Den thematischen Aufriss vollends zu sprengen scheinen die drei Untersuchungen zu Sitcoms und zu Musikvideos, in denen es allgemein um Funktionen von Bild, Text und Ton geht.  Fragen der Unzuverlässigkeit spielen hier keine Rolle mehr, es werden beispielsweise Funktionen des voice-over narrators beleuchtet oder die unterschiedlichen Erzählebenen in Musikvideos über die audiovisuellen Kanäle (Text, Musik, Bild). Leider verbleibt der Eindruck des Lückenbüßers, da jeder der Aufsätze ein neues Feld aufreißt, der rote Faden des Bandes also tendenziell verloren geht.

Während der Band von Fabienne Liptay und Yvonne Wolf (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film (München 2005) einen Korpus an breiten Einzeluntersuchungen vorlegt, das Signale des unzuverlässigen Erzählens und dessen Rezeption berücksichtigt, ist in vorliegendem Band vor allem der Dialog mit der literaturwissenschaftlichen Narratologie hervorzuheben. Ein Verdienst ist die Herausarbeitung verschiedener Formen des unzuverlässigen Erzählens und dagegen die Reflexion von anderen, alternativen Erzählverfahren (vgl. Beitrag von Jean-Pierre Palmier). Einige Fragen bleiben freilich weiterhin offen: Ob im Film generell von einem cinematic narrator ausgegangen werden muss, wird nicht näher beleuchtet. Überhaupt ist der Begriff cinematic narrator im Hinblick auf die Erzählhaltung (Kamera, Schnitt), die weniger personalisiert als in literarischen Texten vor sich geht, suboptimal, doch eine bessere Lösung wird noch nicht geboten. Eine einheitliche, methodische Auseinandersetzung mit den zugrundeliegenden Begriffen wäre hier hilfreich gewesen. Ansonsten ist der Band sowohl für Filmwissenschaftler als auch für interdisziplinäre Ansätze durchaus wertvoll.

  1. Als wegweisend gelten in diesem Zusammenhang die Einführung von Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen 2007 sowie der Sammelband von Vera und Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär.Trier 2002.


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 Veröffentlicht am 12. Juli 2010
 Kategorie: Wissenschaft
 Bild von Nasos3 via flickr
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