Mit Deutschland. Ein Wintermärchen griff Heine den stinkenden Nationalismus der Restaurationszeit an. Alles werde noch schlimmer kommen, so prophezeite er und hoffte trotzdem auf eine bessere Zukunft. Das JT inszeniert das satirische Versepos als kurzweiliges Zweipersonenstück.
Von Stefan Walfort
Karl Marx, eigentlich eher als rational analysierender Philosoph und Ökonom bekannt und weniger als der bestechende Polemiker, der er auch war, nannte einst die »Nation die Scheiße an & für sich«. Das war 1846 der Fall in einer nie zur Druckreife gelangten und trotzdem wichtigen Schrift, wenngleich sie weniger bekannt ist als das Manifest der kommunistischen Partei und Das Kapital. Gemeint ist Die deutsche Ideologie; unter dem Titel kursieren mehrere teils gemeinsam mit Friedrich Engels verfasste Fragmente. Die Ideologiekritik zählt sie zu ihren populärsten Texten.
Ob sich Marx für seine Gleichsetzung von Nation und Scheiße von Heine hat inspirieren lassen? Sicher ist nur, dass Heine zur Zeit seines Pariser Exils Marx kennenlernte. Und einerseits hat, wie Gerhard Höhn im Heine-Handbuch schreibt, »der Umgang mit Marx und dessen Kreis […] zum verschärften Selbstverständnis des revolutionären Dichters […] geführt. In dieser Zeit radikalisierte sich Heines Deutschland-Kritik merklich«. Andererseits waren Heines mit kommunistischen Ideen verknüpfte Hoffnungen damals ausgeprägter als diejenigen Marx᾽. Letzterer war laut Höhn mehr »noch auf der Suche nach sich selber«.
Auffällig ist darüber hinaus, wie wichtig das Scheiße-Motiv für die Sicht auf die Deutschen im Wintermärchen ist. Noch über zweieinhalb Dekaden vom Deutsch-Französischen Krieg und der Reichsgründung als Geburt aus dem Geist des Krieges entfernt will das was heißen: Heine hat geahnt, worauf Judenfeindschaft, Franzosenhass, Zensur, Mythos und der piefige Geist der Restauration in letzter Konsequenz hinauslaufen. Dem, worunter er als aus der Gemeinschaft Verstoßener selbst litt, wollte er etwas entgegensetzen. Angetan hatte es ihm der Saint-Simonismus, eine Spielart des Frühsozialismus, benannt nach dem 1825 verstorbenen französischen Philosophen Claude Henri de Rouvroy, Comte de Saint Simon. Dessen Einfluss lässt sich an mehreren Werken Heines ablesen, besonders am Expositions-Kapitel des Wintermärchens. Dort heißt es in Abgrenzung zum »alte[n] Entsagungslied«, zum »Eiapopeia vom Himmel«, bekanntlich:
Ein neues Lied, ein besseres Lied
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
das Himmelreich errichten.Wir wollen auf Erden glücklich sein
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.Ja, Zuckererbsen für jedermann,
sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.
Am JT lässt das Regie-Team um Tobias Sosinka hierzu Jan Reinartz in der Rolle des Erzählers auf einen vor der Bühne platzierten Stuhl klettern. Von dort aus schmettert er – ganz Agitator, wie 1893 August Bebel vor dem Reichstag (vgl. hierzu wiederum Höhn) – dem Publikum sein Manifest in Versen entgegen. Dabei geht sein Blick immer wieder gen Himmel, mal höhnisch, mal versöhnlich angesichts des Wissens um die eigene Sterblichkeit, und dennoch ein für allemal klarstellend, dass eine neue Religion das Diesseits zu versüßen habe.
Elendes DahindämmernAuf der Bühne selbst ist vorwiegend alter Tinnef zu sehen: Holzstühle, Gerümpel, teils mit Plane abgedeckt. An der Wand lehnt Caspar David Friedrichs Zwei Männer in Betrachtung des Mondes. Auf einer Kiste Astra liegt ein Degen; man ahnt schon: ohne Burschi-Bashing wird niemand nach Hause gehen müssen. Und richtig: Reinartz wird später, wenn es um die Korporierten geht, die Heine als Jude in Göttingen ausgeschlossen hatten, über die Bühne sausen, in der Luft herumstochern, seine herrlich vor Ironie triefenden Sticheleien vom Stapel lassen, um schließlich ernsthaft »vor Krieg und Ruhm, / Vor Helden und Heldentaten« zu warnen.
Auch wenn Vieles aus dem Wintermärchen sich mit Heines Biografie deckt, wäre es zu simpel, den Erzähler nur als Alter Ego Heines zu betrachten. Vielmehr nahm er mit der Fiktionalität ein Stück weit der Zensur den Wind aus den Segeln. Tatsächlich fuhr er im Oktober 1843 von Paris aus über Aachen, Köln, Münster und einige weitere Zwischenstationen nach Hamburg, um seine Mutter zu besuchen. Doch schon bei der Datumsangabe wird es tricky, beginnt doch die Reise des Erzählers erst »[i]m traurigen Monat November«. Noch gravierender: einige der geschilderten Etappenziele haben mit der realen Reiseroute des Autors nicht das Geringste zu tun. Heine war nie an der Kyffhäuser-Höhle, in der, dem Mythos nach, Kaiser Barbarossa im Schlummer liegt. Die Kapitel, die sich darauf beziehen, dienen lediglich dazu, vom Zustand Barbarossas auf den der Deutschen insgesamt zu schließen. Die in vielerlei Metaphorik verpackte, leitmotivisch wiederkehrende Message lautet: es ist dermaßen kalt in Deutschland, dass jeder kritische Geist erfriert. Was bleibt, ist ein elender Zustand des Dahindämmerns.
In seiner Rolle trumpft Reinartz mit umso mehr Lebendigkeit auf – ob er Zettel in die Luft wirft, um die Zensoren zu foppen, voller Ekel die schwarz-weiß-rote Trikolore in die Ecke wirft oder sie als Lappen zum Schuheputzen verwendet, via Mauerschau dem preußischen Adler droht, ihn abzuschießen, oder im Zusammenspiel mit Katharina Brehl die ehemalige Voigt-Realschule in einen Hexenkessel verwandelt. Auch für sie bedeutet die zweistündige Inszenierung überwiegende Bühnenpräsenz; keineswegs haben Sosinka und Co. sie nur vernachlässigbare Nebenfiguren spielen lassen. Permanent in wechselnde Rollen schlüpfend bereichert sie den Abend zusätzlich mit Vitalität.
Mythos statt kritisches DenkenIn der Kyffhäuser-Szene tritt Brehl mit hellblauem Strickjäckchen und grauem Rock auf. Sie hockt sich auf ein winziges Kinderstühlchen, erzählt vom Barbarossa-Mythos, gibt ihn als Ammenmärchen der Lächerlichkeit preis. In Windeseile wirft sie sich einen Morgenmantel über, pappt sich einen Zauselbart an, schnappt sich einen Wedel. Nun tigert sie als Barbarossa selbst vor dem Erzähler auf und ab – schaut dabei, wie er sehr zur Belustigung des Publikums feststellt, »nicht so ehrwürdig aus, / Wie man sich gewöhnlich einbild᾽t«.
Tölpelhaft befreit der Kaiser eine schwarz-rot-goldene Fahne von Staub. Im nächsten Moment dient ihm der Wedel als Phallus, um eine Sexfantasie mit »der Gräfin Dübarry, / Des fünfzehnten Ludwigs Mätresse«, zu verbildlichen. Der erbärmliche Eindruck des dümmlich Schmunzelnden lässt nur eine Schlussfolgerung zu: »Bedenk ich die Sache ganz genau, / So brauchen wir gar keinen Kaiser«; vom Furor Antiteutonicus ergriffen scheucht ihn der Erzähler zurück ins Reich der Träume. Barbarossa bleibt weiter nichts, als hilflos mit dem Wedel überm Kopf kreisend zu drohen und dennoch klein beizugeben.
Ein andermal kommt Brehl als Personifikation des Rheins daher: eine graue Perücke und einen Bart voller Moos, über einem blau-weiß-gestreiften Oberteil ein Fischernetz um den Hals hängend. Mit einer Plane erzeugt sie tosende Wellen. »Die Verse von Niklas Becker« haben den Fluss aufgewühlt. Wiederholt ist während der Darbietung zu hören, wie das damals allseits bekannte Rheinlied, mit dem Becker gegen die Franzosen mobilisierte, aus einem 30er Jahre-Radio dudelt.
Wenn ich es höre, das dumme Lied,
Dann möcht ich zerraufen
Den weißen Bart, ich möchte fürwahr
Mich in mir selbst ersaufen,
so spottet der Rhein
und empört sich über seine Instrumentalisierung.
Beide Mythen, der von Barbarossa und der vom »freien deutschen Rhein«, wie es bei Becker heißt, waren zentral für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen und ein fragwürdiges, weil kriegerisch forciertes, Streben nach Einheit. Eine heutzutage wieder erstarkende Rechte fordert förmlich dazu heraus, Heines Häme zu erneuern: Wenn Björn Höcke in seinem Buch Nie zweimal in denselben Fluss von bewegenden Kindheitserinnerungen an Burgen und »Ruinen der Rheinlandschaft« berichtet und daraus »etwas Stärkendes« zieht, weil sie für die Bereitschaft zur »kriegerischen Behauptung des Eigenen« stünden, und wenn er bedauert, dass diese »Tugend […] den Deutschen und Europäern abhandengekommen« sei, was könnte sich besser zur Replik eignen als Heines Verse? Im JT haben sich
Zwar konnte Heine noch nicht wissen, welche Ausmaße der deutsche Nationalismus noch annehmen würde, vor allem im 20. Jahrhundert. Indem er seinen Erzähler in den Nachttopf Karls des Großen hineinschauen ließ, um in dessen Hinterlassenschaften die Zukunft zu lesen, deutete er jedoch unmissverständlich an, von was für einer wahrhaft beschissenen er ausging. Im JT mutet man den Zuschauer*innen lediglich zu, mit anzuhören, wie der Erzähler hinter der Kulisse seine Nase in einer Toilette versenkt, würgt, röchelt, sich erbricht, verzweifelt die Spülung zieht, aber »de[r] Mist [wie] / aus sechsunddreißig Gruben« bahnt sich trotz allem den Weg nach oben. Vorne torkelt Brehl als versoffene Prostituierte Hammonia herum. Dank des kleingeistigen Dünnpfiffs, den sie von sich gibt – Loblieder auf die Monarchie, Verniedlichungen von Zensur und Todesurteilen – brodelt es erst recht in des Erzählers Brust.
Das Ganze endet mit einem Plädoyer für »ein neues Geschlecht […] / Mit freien Gedanken« und knüpft so wieder an die hoffnungsvolle Exposition an. Auch wenn die Zuversicht den Dichter letztlich täuschte, gilt es trotzdem, an ihr festzuhalten. Diese Botschaft, mit der das Publikum entlassen wird, stärkt allen das Rückgrat, die täglich gegen nationalistische Borniertheit kämpfen und dabei teils Kopf und Kragen riskieren. Nicht zuletzt deshalb muss man Deutschland. Ein Wintermärchen am JT gesehen haben.