Die beiden Orestes-Darsteller stehen zitternd da. Stumm. Die Hände versuchen etwas zu fassen. Etwas das Halt gibt. Aber da ist nur das Nichts. Und ihr Atmen in der sonst vollkommenen Stille. Ihre Hände blutbefleckt. Eine lautlose Kakophonie. Die Gedanken stehen ihnen ins Gesicht geschrieben: Was habe ich getan, wie konnte ich das tun? Wie konnte ich d a s nur tun? Schließlich sprechen sie: »Es ist doch Recht, Recht. Es ist doch schließlich Recht.«
Von Xenia Buchwald
Alles hat mit einem Frevel der Griechen an Artemis begonnen. Um diesen wieder gut zu machen und günstige Winde für die Fahrt nach Troja zu erlangen, muss Agamemnon, König von Argos, seine eigene Tochter, Iphigenie, opfern. Und auch hier schon: »Es ist doch Recht!« Dieser Satz fällt immer wieder, wird von Agamemnon gesprochen, von Iphigenie, von den Griechen. Nur eine sagt ihn nie: Klytaimnestra, Agamemnons Frau. Das ist der Ausgangspunkt des Leids.
Zehn Jahre vergehen, in denen Agamemnon fern der Heimat mit den Griechen gegen Troja kämpft. Zehn Jahre, in denen Klytaimnestra ihrem Ehemann nicht verzeihen kann. Zusammen mit Ägisth, der dem Geschlecht des Agamemnon auch nicht wohlgesinnt ist, schmiedet sie ein tödliches Komplott. Endlich kehrt Agamemnon mit der jetzt versklavten Seherin Kassandra siegreich zurück. Aber die Feierlichkeiten und die Freude über dessen Rückkehr halten nicht lange an: hinterlistig begeht Klytaimnestra den Doppelmord. Das Volk gerät in Aufruhr. Es weigert sich von einer Meuchelmörderin regiert zu werden.
Das Volk ist ein wichtiges Thema, nicht nur in der Inszenierung von Mark Zurmühle, sondern auch in der antiken Tragödie des Aischylos. Uraufgeführt wurde das Stück zu den Dionysien 458 v. Chr. in Athen, wo es den Siegerpreis gewann. Nur 50 Jahre zuvor hatte Kleisthenes in Athen die attische Demokratie begründet. Diese ist zwar keineswegs mit der heutigen zu vergleichen, allerdings hatten die Bürger deutlich mehr Rechte als in der Tyrannis zuvor. Kurz darauf verteidigten die Griechen diese neue Ordnung gegen die Perser. Aischylos selbst nahm an diesen Kämpfen teil. Seine Dichtung verstand er als Mittel, die Bürger zu politisch-moralischer Verantwortung zu erziehen. In der Orestie wendet er sich gegen die Blutrache und plädiert für die neue Rechtsordnung.
In der Inszenierung von Mark Zurmühle zeigt sich dieser Aspekt besonders deutlich am Beispiel des Chores, der symbolisch für das Volk der Griechen steht. Mal verschmelzen die Schauspieler zu einer Einheit mit dem Chor. Mal stehen dieselben Schauspieler als Einzelne im Vordergrund und symbolisieren so ihre Nähe zum Volk, waren sie doch als jetzt Herrschende, als Klytaimnestra oder Agamemnon, gerade noch Teil von ihm. Immer aber beobachtet der Chor, erzählt das Geschehen, das zu großen Teilen nur in der Imagination des Zuschauers stattfindet. So etwa die Opferung der Iphigenie.
Der zweite Teil des Stückes beginnt. Die Tragödie schreitet unaufhaltsam voran und auch hier wird der Chor wieder eingebunden: Allerdings tritt jetzt anstatt des weißgekleideten Chores aus der ersten Hälfte ein schwarz gewandeter Gebärdensprachchor auf. Dessen Schwarz zeigt auch symbolisch, wie sich das Geschehen mehr und mehr verdüstert. Zudem erkennt der Zuschauer die Kommunikationshürde, die zwischen den Protagonisten herrscht. Dieses Nichtverstehen wiederum ist nicht unerheblich für das entstandene Leid verantwortlich.
An dieser Stelle betritt Orestes, Sohn des Agamemnon, zum ersten Mal die Bühne und er steht auf der Seite des Volkes. Seine weiße Kleidung zeigt, dass er noch unschuldig ist, und er sticht so auch besonders hervor. Wieso er bei seinem ersten Erscheinen in Tennissocken über die Bühne hüpft, bleibt allerdings rätselhaft. In jedem Fall nimmt es seiner Figur die Ernsthaftigkeit.
Interessanterweise wird Orestes von zwei Schauspielern gleichzeitig gespielt. Diese sollen seinen inneren Konflikt verdeutlichen. An sich ein sehr guter Einfall. Dazu müssten die beiden sich aber auch widersprechen, um so die zwei Wesen des Orestes verkörpern. Stattdessen ergänzen sie sich nur, der eine führt die Sätze des anderen zu Ende. Auf Geheiß des Orakels von Delphi rächt er seinen Vater und begeht zugleich auch den schlimmsten Frevel: den Muttermord. Danach stellen die Schauspieler Orestes besonders eindrucksvoll dar: Die Ungeheuerlichkeit der Tat wird für den Zuschauer spürbar. Und dennoch begreift er, dass ebendiese Tat unabwendbar gewesen ist. Denn am Ende geht es nicht mehr um Worte. Da gibt es nichts, was Klytaimnestra oder Ägisth hätten sagen können, um es wiedergutzumachen. Stattdessen haben sie geradezu schicksalshaft ergeben ihren Todestanz getanzt. Die Erinyen, Rachegöttinen, grässlich anzusehende Frauen mit Schlangenhaar, verfolgen Orestes bis nach Athen. Dort findet eine Gerichtssitzung statt, die die alte Ordnung aus den Fugen geraten lässt…
Die moderne Inszenierung, die sich kaum an Requisiten bedient und die Bühne, die ebenfalls ohne große Veränderungen verschiedene Orte darstellt, unterstützen diesen Eindruck der Ungeheuerlichkeit des Muttermordes noch. Denn die Emotionen, die Abgründe und Tiefen der menschlichen Natur werden in den Vordergrund gestellt. Dennoch gibt es aber ein versöhnliches Ende. Letztendlich wird Orestes freigesprochen. Die Erinyen sind gezähmt. Das Morden hat ein Ende. Frieden für immer, sagt der Chorführer. Und der Vorhang schließt.