Jederzeit kann es passieren, dass man im Alltagstrubel plötzlich ratlos dasteht und sich neu sortieren muss. Als sanfter Gedankenanstoß selbst für Vielbeschäftigte sind in dieser Lage Katharina Hackers Minutenessays Darf ich dir das Sie anbieten? bedenkenlos zu empfehlen.
Von Freya Morisse
Das leichte, schmale Buch, erschienen im Schweizer Berenberg Verlag, besticht schon durch seinen türkisblauen Halbleineneinband und sein seidiges Papier, das dazu verführt, selbst den Stift anzusetzen. Und so ist es tatsächlich gedacht, verrät das kleine Vorwort: Dies sei ein Notizbuch mit sehr kurzen Essays darin, die man bei sich tragen und zwischen zwei Haltestellen oder im Stau lesen könne, Minutenessays eben, die man durch eigene Notizen ergänzen und danach weiterverschenken möge. Ein Buch also, das auf originelle Weise zum Dialog einlädt. Ein solches Buch braucht natürlich keine Seitenzahlen, keinen Anfang und kein Ende. Blättert man darin, findet man viel Platz für Notizen, aber zwischen den wenigen Zeilen auch viel Raum zum Neu-, Nach- und Umdenken. Man stößt auf Wolken, Hunde und Kuscheltiere genau wie auf alternde Ehen, den Groll und das ewige Totsein.
Im Interview mit dem NDR Kultur sprach Katharina Hacker, deren Roman Die Habenichtse 2006 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde und von der zuletzt die Romane Eine Dorfgeschichte (2011) und Skip (2015) erschienen, über das Anliegen hinter ihren Minutenessays. Es gehe ihr darum, die Essenz ihres bisherigen Schreibens herauszuarbeiten, die Gedanken aus den Romanen zu einem Extrakt zu kondensieren. Bei diesem Versuch sind luftige Gebilde entstanden, Essays wie Wolken – immer in Bewegung und bereit, sich neu zu formieren.
Appelle an die SorgfaltDie Beweglichkeit der Gedanken gehört zum Wesen der essayistischen Form. Der Essay ist seiner Definition nach immer »nur« ein Versuch: ein Ding zu (be-)greifen, nicht aber, es festzulegen. Die Autorin folgt diesem Grundsatz nicht bloß, sie lässt ihn immer wieder dort zum Thema werden, wo es um Sprache geht. Sprache sei auch »dazu da, Platz zu schaffen, Gerümpel beiseite zu schaffen, damit man endlich wieder atmen kann. So sind Essays gemeint, und wenn man dann von Versuchen spricht, hat das eine zweite Absicht: eine Verlockung aus dem enger werdenden Geflecht hinaus.« Obwohl diese Essays so luftig-leicht daherkommen, sind sie doch mit Nachdruck formuliert, als sanfte Anstöße. Immer wieder rufen sie auf unaufdringliche Weise zu mehr Sorgfalt, aber auch zu mehr Originalität im Umgang mit Sprache auf.
Ebenso lasse sich der zwischenmenschliche Umgang durch etwas mehr Sorgfalt zum Positiven verändern, so Hacker. In Beziehungen empfehle es sich beispielsweise, sich mehr füreinander anzustrengen, die eigenen Gewohnheiten zu durchbrechen und die Fantasie öfter zu bemühen. Ihre Essays plädieren aber auch für eine gewisse Distanz im Zusammenleben, wie es bereits der Titel nahelegt. So fragt die Autorin: »Warum sollten die geliebten, nahen Menschen bestraft werden damit, daß man ihnen weniger achtsam begegnet als einer geschätzten Bekannten?« Daran anknüpfend formuliert sich der titelgebende Wunsch, selbst den vertrautesten Personen das »Sie« anzubieten und durch diese Distanz wieder größere Achtung für sie zu finden.
Das Bloßstellen des ZeitgeistsUnterschiedlichste Phänomene betrachtet Hacker mit einer Distanz, die es ihr ermöglicht, den gegenwärtigen Zeitgeist mit Wucht bloßzustellen. Dies passiert in Aussagen wie: »Hat man sich erst einmal getrennt, ist es leichter. Der andere muß einem nicht mehr gefallen, so kann man ihn endlich nett finden.« Oder: »Es gibt Zeiten, in denen die Sprache zu nichts da zu sein scheint, als die Position zu bestimmen, dies und jenes genau abzugrenzen und sich von anderen.« Oder auch:
Inszeniert sollte im Leben viel mehr sein, das Authentische neigt zu Socke und Trainingshose.
Solche Sätze stellen die populäre Auffassung bestimmter Begriffe infrage, so auch im Fall der ›Natürlichkeit‹ und der ›Selbstliebe‹. Nur das Älterwerden betreffend vertritt die Autorin eine allzu geläufige Ansicht. Der eigene Körper werde mit der Zeit zwangsläufig »schäbig«; allein die Jungen seien »prächtig« anzusehen. Da stellt sich die Frage, warum das Alter nicht seine ganz eigene Schönheit entfalten kann und warum es sich immer am Ideal der Jugend messen muss.
Anderen Begriffen verhilft Hacker wiederum zu einer positiveren Konnotation. So versucht sie zum Beispiel, das Wort ›nett‹ zu rehabilitieren, indem sie auf seine ältere Bedeutung verweist. Auch unverbindliche
Die Lektüre der Minutenessays führt kaum umhin, ein paar der eigenen grundlegenden Annahmen zu hinterfragen. Man könnte ewig zitieren aus diesem Buch, das so klare, präzise und treffende Sätze enthält, die lange nachhallen. Und deshalb kann man ihm nur wünschen, dass es seinem Anliegen entsprechend genutzt wird: dass diese Gedanken weitergedacht, weitergeschrieben und weiterverschenkt werden, damit sie anwachsen zu dickbäuchigen Wolken.