Ihre ›unpersönliche Autobiografie‹ Die Jahre wurde 2017 ins Deutsche übersetzt und erschien jüngst als Taschenbuch. Annie Ernaux nimmt in der zeitgenössischen Literatur übers Persönliche eine interessante Sonderstellung ein.
Von Sebastian Kipper
Als »Standbilder der Erinnerung« bezeichnet die französische Schriftstellerin Annie Ernaux die Fotografien ihrer Selbst, die sich im Laufe ihres Lebens angehäuft haben. Für ihre Autobiografie Die Jahre suchte sie mehrere fotografische Selbstportraits aus unterschiedlichen Jahren heraus und ordnete sie in chronologischer Reihenfolge an. Diese Fotos sind eine der vielen Gedächtnisstützen, anhand derer Ernaux ihr eigenes Leben nacherzählen möchte. Auffällig an der Autobiografie ist jedoch, dass die Autorin über sich selbst konsequent in der dritten Person schreibt. Das Ich, das in der zeitgenössischen Literatur gerade als so laut beschrieben wird, ist komplett aus dem Text getilgt.
Im individuellen Gedächtnis das kollektive Gedächtnis findenWas genau ist Ernaux’ Projekt? Die visuell fixierten Versionen des vergangenen Selbst sollen ergründet werden. Zur Annäherung an die Wünsche und Ängste der jeweiligen Person, die Ernaux einmal war, zieht sie Chansons, Filme, Bücher, Zeitschriften, Werbeslogans, gängige Meinungen, politische Parolen und Redewendungen heran, die zur entsprechenden Zeit zirkulierten und ihr Denken und Handeln prägten. Der Betrachtungsgegenstand verschiebt sich dabei immerfort, geht vom individuellen Leben zum Zeitgeist über. Es geht nicht nur um die Geschichte einer Frau, sondern auch um die Geschichte Frankreichs, die aufgrund der Globalisierung zunehmend mit der Weltgeschichte verwoben ist.
Denn in diesen geschichtlichen Horizont, der den Rahmen für ihr Handeln und Denken vorgibt, ist das Leben Ernaux’ eingebettet. Die Mentalität der Proteste von 1968 dringt dabei genauso in ihr Leben ein wie der Konsumhedonismus der 70er und die Denkweise der Leistungsgesellschaft ab den 80er Jahren. Nicht einfach nur die Ereignisabfolge des eigenen Lebens, sondern die »einheitliche Tonalität« vergangener Epochen möchte Ernaux in Die Jahre wiedergeben:
Eine in Deutschland nur teilweise entdeckte SchriftstellerinSie will aus dem Abdruck, den die Welt in ihr und ihren Zeitgenossen hinterlassen hat, eine gesellschaftliche Zeit konstruieren, eine Zeit, die vor Langem begann und bis heute andauert – sie will in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnis finden.
Bei Die Jahre handelt es sich um die Übersetzung eines Texts, der bereits 2008 bei Gallimard in Frankreich erschien. Hierzulande hat man die französische Schriftstellerin erst vor kurzem entdeckt; bisher ins Deutsche übersetzt wurden außerdem die Erzählungen Erinnerungen eines Mädchens (2018), Eine Frau (2019) und Der Platz (2019) (alle erschienen beim Suhrkamp Verlag). Dabei ist die Liste der Veröffentlichungen von Ernaux um einiges länger: Um die 20 Bücher hat die Schriftstellerin in einem Zeitraum von über 40 Jahren veröffentlicht. Mehrfach wurde sie mit Preisen ausgezeichnet – allein drei Mal für Die Jahre. Sie gilt als eine der profiliertesten literarischen Stimmen Frankreichs, veröffentlicht regelmäßig Artikel in Zeitungen und gibt Interviews.
Seit 40 Jahren habe sie keinen Roman mehr geschrieben, sagt Ernaux. Sie selbst charakterisiert ihre Texte als ›autosoziobiographisch‹; die eigenen Erfahrungen sollten dabei objektiviert und mit einem kritischen Bewusstsein analysiert werden. In Die Jahre setzt sie diesen Anspruch erzählerisch radikal um. Die spezielle Erzählstrategie ist das Ergebnis eines langen Reflexionsprozesses – erste Entwürfe der Autobiografie entstanden bereits 1985 –, für den sie auch literarische Vorarbeiten leistete: So betrachtet Ernaux die Erzählungen Passion simple (1992) und La Honte (1997) als Hinführungen zu Die Jahre. Trotzdem sollte es nach diesen Veröffentlichungen noch mehr als 10 Jahre dauern, bis sie sich zu einer bestimmten Schreibweise durchringen konnte.
Die schwierige Suche nach einer angemessenen Form eines solchen ›autosoziobiographischen‹ Erzählens ist auch in Die Jahre selbst immer wieder Thema. Das Ergebnis dieser Reflexionen ist ihre Poetik der »unpersönlichen Autobiografie«, mit der Ernaux ihren Text abschließen lässt:
Möglichkeiten des autobiografischen SchreibensDas Buch soll nicht das sein, was man üblicherweise unter Erinnerungsarbeit versteht, bei der es darum geht, ein Leben nachzuerzählen und sich zu erklären. Sie schaut nur in sich hinein, um dort die Welt, das Gedächtnis und die Träume der Vergangenheit zu finden, um zu erfassen, wie sich Ideen, Glaubenssätze und Gefühle, wie sich die Menschen und das Subjekt verändert haben […]. In dem, was sie als unpersönliche Autobiografie begreift, gibt es kein »ich«, sondern nur ein »man« oder »wir« – jetzt erzählt sie auch von früher.
Zu Wort kommen sollen die Diskurse selbst – was ›man‹ dachte, ›man‹ hoffte, ›man‹ befürchtete –, für die Ernaux nur ein Knotenpunkt ist. Die Stimme der Autorin soll im Chor der Diskurse aufgehen. Was in der Gesellschaft an Diskursen kursiert und welche Aussagen in diesen zulässig sind, ist jedoch Ausdruck der Perspektive von einer Gruppe von Personen, die über die Deutungshoheit in einer Gesellschaft verfügen – und diese Gruppe ist in der französischen Gesellschaft zu dieser Zeit weiß, heterosexuell, bürgerlich. Daher fällt zum Beispiel auch nur ein äußerer Blick auf die Bewohner*innen der banlieues (Peripherien der französischen Großstadtsiedlungen, die einen hohen Anteil an Bewohner*innen mit Migrationshintergrund haben und als Problemzonen gelten), die ›man‹ – dem zunehmenden fremdenfeindlichen Klima Frankreichs entsprechend – als »unzivilisiert, irgendwie gefährlich und vor allem sehr unfranzösisch«
Wesentlich interessanter fallen hingegen Erfahrungen aus, wenn sie nicht der Norm der französischen Gesellschaft entsprachen, wenn Ernaux’ individuelle statt den kollektiven Erfahrungen im Vordergrund stehen. Da wäre ihr sozialer Aufstieg aus dem Arbeitermilieu ins bürgerliche, den sie zu einer Zeit hinlegte, in dem die Klassenunterschiede noch klaffender waren als heute. Oder der Kampf um die Emanzipation der eigenen, weiblichen Sexualität, die sie persönlich erst nach einer Scheidung erreichte. Über die Privilegierung von solchen unkonventionellen Perspektiven ist interessanter zu lesen als zum Beispiel über die Unbeholfenheit, die ›man‹ (also alle Französ*innen) bei den ersten Annäherungsversuchen an einen Computer an den Tag legte(n).
Gerade von der Norm abweichenden Lebenserfahrungen bietet das autobiografische Schreiben die Möglichkeit, ausformuliert und eingehend ergründet zu werden – erst recht wenn ihnen im öffentlichen Diskurs kein Raum dafür bereitsteht. In Ernaux’ Die Jahre hingegen soll genau dieser normierende öffentliche Diskurs aus dem Leben eines Individuums herausgearbeitet werden. Ernaux entwickelte dafür eine Erzählstrategie, die die Autobiografie zwar nicht revolutionierte, aber als interessanter Beitrag zum Versuch gelesen werden kann, die Gattung neu auszuloten.