Das Jahr 2012 war Kurt-Schwitters-Jahr. Anlässlich seines 125. Geburtstages erinnern das Schauspiel Hannover und NDR Kultur mit dem Programm »Bürger haben kurze Fliegen« an den experimentellen Künstler. LitLog betrauert heute, am 8. Januar 2013, den 65. Todestag von Schwitters und erinnert an das, was nicht vergessen werden darf.
Von Leonie Krutzinna
Zürich 1916. Ihre Väter sind Fabrikanten, Geschäftsleute oder Apotheker. Kaum dem gutbürgerlichen Familienschoß entflohen, treibt der Erste Weltkrieg sie zunächst innerlich, dann auch äußerlich um: ins Exil der kriegsneutralen Schweiz. Unter ihnen Hugo Ball, Hans Arp und Richard Huelsenbeck. Sie gründen das Cabaret Voltaire, das Kneipe und Theater, Konzertsaal und Wohnzimmer zugleich ist, im Raum ein Klavier, an den Wänden Bilder von Picasso. Hier wird der Dadaismus geboren. Dadaistische Kunst, das sind Lautgedichte, Manifeste, Anekdoten, die Grenzen zwischen Bildkunst und Literatur verschwimmen. Es ist Vortragskunst, bei der Produzent und Rezipient in festem Blickkontakt stehen. Der revolutionäre Funke entfacht schon bald ein Feuer, das sich von New York, Berlin und Köln über Paris ausbreitet. Und über Hannover.
Hannover, fast 100 Jahre später, die »Stadt mit dem gewissen Nichts« oder wie Theodor Lessing meinte: die »Stadt der Mittelmäßigkeit«. Hier finden sich die Rezipienten dadaistischer Vortragskunst im fast gleichen Setting wie 1916 in Zürich wieder. Mit dem Programm »Bürger haben kurze Fliegen« begehen das Schauspiel Hannover und NDR Kultur den 125. Geburtstag von Kurt Schwitters, dem Vorzeigekünstler der niedersächsischen Landeshauptstadt.
»Das geistigste Publikum Europas«Hannover habe »das geistigste Publikum Europas« – so werden die Zuschauer_innen schon zu Beginn gebauchpinselt. Das funktioniert damals wie heute, nicht ohne Augenzwinkern, aber die Hannoveraner sind lokalpatriotisch genug, um sich aufrichtig geschmeichelt zu fühlen. Dabei wissen viele von ihnen gar nicht, wer Kurt Schwitters ist, obgleich sich doch einige Spuren in der Stadt finden: In der Altstadt kann man über ein ausgetretenes Bodenrelief laufen – ein Text von Schwitters über Hannover und seine Bewohner. Den Maschpark am Neuen Rathaus schmücken Tafeln mit seinen Gedichten. Begraben ist er auf dem Engesohder Friedhof, nachdem sein Leichnam aus dem englischen Exil nach Hannover überführt wurde. Und schließlich gibt es das Sprengel Museum, das den Nachlass des Künstlers ausstellt.
»Von hinten wie vorne A-N-N-A«Einen Aha-Effekt mag man am ehesten noch unter den Endzwanzigern erzielen, die in den 1990ern deutschsprachigen HipHop hörten. Denn es war nicht die Gruppe Freundeskreis, sondern dieser Kurt Schwitters, der die Zeilen »Sie ist von hinten wie vorne A-N-N-A« erfand. Seine Liebeserklärung an Anna Blume plakatierte er auf alle Litfasssäulen Hannovers.
Dada ist Aktionskunst. Schwitters wollte auch Aktionskunst machen, aber weil es Dada schon gab und Schwitters in Zürich nicht dabei war, dachte er sich kurzerhand ein neues Label aus: »Merz«. Der Begriff entstand bei der Erstellung einer Collage, in der Schwitters eine Werbeanzeige der Commerzbank verwendete und alles bis auf die Mittelsilbe überklebte. Merz wird fortan zum stilbildendenden Prinzip, nach dem alle Aktivitäten benannt werden, egal ob Collage, architektonisches Gebilde, Bühnentheorie oder als Künstlername selbst.
Eine Koproduktion des Schauspiel Hannover, NDR Kultur und dem Sprengel Museum Hannover
Premiere: 4.11.2012
Szenische Einrichtung: Anna Hartwich
Musik: Stephan Meier
Dramaturgie: Lucie Ortmann
mit: Lisa Natalie Arnold, Mathias Max Herrmann, Camill Jammal, Wolf List und Stephan Meier
Kurt Schwitters: Das literarische Werk. Herausgegeben von Friedhelm Lach. Köln 1973-1981.
Kurt Schwitters: Wir spielen, bis uns der Tod abholt. Briefe aus fünf Jahrzehnten. Gesammelt, ausgewählt und kommentiert von Ernst Nündel. Frankfurt a.M./Berlin 1974.
Gerhard Schaub (Hg.): Kurt Schwitters und die ‚andere‘ Schweiz. Unveröffentlichte Briefe aus dem Exil. Berlin 1998.
Von Anna Blume bis zum Papagei Schacko finden alle wichtigen Meilensteine Erwähnung. Diese Texte hatte auch Schwitters in sein Rezitierbuch geklebt und ging mit ihnen auf Lesetour. Der Fokus des Programms liegt auf den humoristischen Texten und Schwitters‘ Wortwitz wird auf diese Weise anerkennend und überzeugend gewürdigt. Das Publikum honoriert das mit ständigem Zwischenapplaus – dramaturgisch geschickt evoziert: Denn das Spiel im Spiel ist von Anfang an Methode und der partizipative Zuschauer Teil der Inszenierung – gerade weil er klatscht. Das Publikum soll nett sein, es soll lachen, es soll klatschen.
»Ein Veilchen, welches mit Absicht im Verborgenen blüht«Aber wofür klatscht das Publikum? Für die Darbietung? Für die Texte? Für Schwitters? Weder im Cabaret Voltaire noch im Hannover der 1920er Jahre war dadaistische Vortragskunst ein wirklicher Renner. Das Publikum reagierte nicht selten befremdet und verstört, wenn die Texte überhaupt Gehör fanden. Schwitters selbst bezeichnet sich im Text Ich und meine Ziele 1930 als »Veilchen, welches mit Absicht im Verborgenen blüht«. Die Avantgarde hat mit ihren Umwälzungen auf den Gebieten der Kunst und Literatur die Konventionen des kulturellen Lebens gehörig durcheinander gebracht und vor allem Institutionen wie Museen und Theater radikal in Frage gestellt. Der Abend im Schauspiel Hannover vermittelt auf diese Weise das Erbe der avantgardistischen Künstler, ohne das eine assoziative Erzählweise eines David Lynch wohl ebenso wenig denkbar wäre wie das plurimediale postdramatische Theater. Aber der Dadaismus und Schwitters‘ Biographie hat eben nicht nur diese ästhetische Dimension.
»Auf Lachen folgt Weinen«Jetzt, 100 Jahre später, darf und kann gelacht werden. Doch leider geschieht dies nicht ohne bitteren Beigeschmack: »Lachen Sie nicht so! Auf Lachen folgt Weinen!« heißt es an dem Abend. Aber das Weinen bleibt aus. Dabei hätte man es sich als Ausdruck von Betroffenheit oder Wut gewünscht, angesichts der historischen Tatsachen, die die Biographie Schwitters‘ wesentlich geprägt, erschwert und zerstört haben. Im Juli 1937 feiern die Nazis in München die Eröffnung der Propaganda-Ausstellung »Entartete Kunst«. Drei von Schwitters‘ Werken werden diffamierend zur Schau gestellt. An Annie Müller-Widmann schreibt er am 5.8.1937 aus dem norwegischen Exil:
Es war einmal ein kleiner Maler, – ich schreibe nämlich gerade Märchen – der wohnte in einem schönen Hause an einer schönen Strasse und neben einem großen schönen Walde.
Da plötzlich kam aus dem Walde ein böser Wolf, der war sehr stark und wild. Er umkreiste das Haus und wollte partout eindringen, um den Maler zu fressen und seine Werke zu vernichten.
Da dachte der kleine Maler: ›Friss Du nur meine Werke, die Nägel werden dir nicht gut bekommen; mich aber sollst Du nicht fressen‹, und er wartete, bis die Bestie einmal schlief, dann nahm er ein Auto und fuhr hinweg.
Er scheute keine Gefahr und fuhr fort, bis zu einem grossen Schiffe, das ihn an eine ferne Küste brachte, wo es keine Wölfe gibt.
Im Staatstheater Hannover wird die Passage effektvoll ganz an den Anfang des Programms gestellt und bildet so den einzigen spürbaren Anachronismus in der Textfolge. Das unheilvolle Schicksal, das Schwitters mit Brecht, Tucholsky, Stefan Zweig, Nelly Sachs und vielen weiteren von den Nazis indizierten und ins Exil getriebenen Künstlern teilt, wird so als böses Omen antizipiert. Die gleiche Passage dann sogar ein zweites Mal zu zitieren, ist ein sehr gelungener dramaturgischer Eingriff. Das verleiht Nachdruck und mit Nachdruck muss gesagt werden, dass Schwitters Opfer der NS-›Kultur‹politik wurde. Weder Jude noch Kommunist und auch sonst politisierende Tendenzen in der Kunst meidend, ist Schwitters heute im Bewusstsein der wenigsten Rezipienten ein durch die Nazis verfolgter Künstler.
Vom »bösen Wolf« HitlerLeider leistet die szenische Lesung diese Aufklärungsarbeit nicht in dem Maße wie sie könnte. Auch wenn vom »bösen Wolf« Hitler die Rede ist und die Exilstationen Norwegen und Großbritannien eindeutig markiert werden, sind in der Textauswahl die Kriegs- und Exilstoffe anteilig nicht angemessen repräsentiert. Schwitters‘ Gedicht »Flucht«, das den Überfall Nazi-Deutschlands auf Norwegen am 9.4.1940 dokumentiert, ist in diesem Kontext eigentlich unabdingbar, aber es fehlt im Programm »Bürger haben kurze Fliegen«.
Auch die Auswahl der Briefpassagen ist nicht immer nachvollziehbar. Es wird nicht deutlich, dass Schwitters nach seiner Flucht von Norwegen nach Schottland nicht in Freiheit lebt, sondern interniert ist, als Deutscher unter Generalverdacht steht und auch getrennt von seinem Sohn und der restlichen Familie ist.
»Und über mir zerbrechen die Sterne«Es mag richtig sein, dass Schwitters auch in düsteren Zeiten den Sinn für Humor nicht verloren und zudem unmittelbar damit begonnen hat, auf englisch und norwegisch zu schreiben. Nur wenige Schriftsteller konnten den Verlust und die Entwertung der Muttersprache durch die Nazis ästhetisch kompensieren. Schwitters ist es geglückt, über die kulturpolitische Diktatur der Nazis hinweg ein humorvolles Verständnis von Sprache und muttersprachlicher Identifikation aufrechtzuerhalten. Aber im Nachlass finden sich durchgängig auch Zeugnisse von Hoffnungslosigkeit, wie etwa das Gedicht »Gefangen«, in dem es heißt:
Die Sterne erlöschen ihren Glanz.
Ich bin gefangen, gefangen.
Zwar liege ich nicht in Ketten,
doch ich bin tot, ich schlafe.
…
Ich soll verdorren wie ein Blatt
In einer Welt von Blumen.
Verdorren soll ich, weil ich bin
Und über mir zerbrechen die Sterne.
Ich bin gefangen!
Kurt Schwitters erleidet nach dem Krieg einen Schlaganfall und mehrere gesundheitliche Einbrüche. Am 8. Januar 1948 stirbt er, 60-jährig, in England, »poor, hungry and ignored«. Die Nazis haben eine gesamte Künstlergeneration verfolgt, verjagt, verbrannt. Das Netzwerk von Künstlern, Literaten, Avantgardisten und Dadaisten, in dem Schwitters sich bewegte, wurde durch das faschistische System zerstört. Die Publikumsreaktionen an dem Abend haben gezeigt, dass es nicht reicht es nur zwei Mal zu sagen.
»Ewig währt am längsten«, lautet eine von Schwitters‘ erfrischend-geistreichen Sentenzen. Das gilt auch für die Erinnerung an das, was nie vergessen werden darf.