José Saramago ist ein Meister des Vexierspiels. In Das Todesjahr des Ricardo Reis stellt er den Leser vor die Aufgabe, zu entscheiden, was in der Macht des Handelnden steckt, wenn er nur die Sprachgewalt besitzt, sich mit der Welt auseinanderzusetzen.
Von Florian Pahlke
Saramagos Romane sind komplex. Sie changieren zwischen Fiktion und Wirklichkeit, verbinden immer wieder historische Ereignisse mit alternativen Weltverläufen. Oftmals deutet der Erzähler dabei nur an, lässt Fragestellungen aufscheinen, die aufgreifen, was wir Wirklichkeit nennen. Am Ende ergibt sich dann eine Version des Welttheaters, die eindrucksvoll zeigt, wie eng Geschichte mit Geschichtsschreibung verbunden ist. Saramagos Werke stehen somit immer unter dem Vorbehalt, zu fragen, was wäre, wenn…
In Das Todesjahr des Ricardo Reis schickt der portugiesische Nobelpreisträger den Leser in das Lissabon des Jahres 1935/36. Die politische Situation ist äußerst angespannt, in Deutschland und Italien herrschen die Faschisten, die Spanier erleben die Anspannung und Vorwehen der nahenden Franco-Diktatur und auch in Portugal herrscht neben einem allgegenwärtigen Nationalstolz eine Stimmung, die durch Revolutionsängste äußerst instabil zu sein scheint. Mitten in diese politisch angespannte Konstellation platziert Saramago nun ein komplexes literarisches Vexierspiel, in dem er den portugiesischen Arzt Ricardo Reis aus Brasilien in seine Heimat zurückkehren lässt. Die besondere Brisanz dieses eigentlich nicht ungewöhnlichen Vorganges speist sich aus der Tatsache, dass der hauptsächliche Grund für seine Rückkehr der Tod des Schriftstellers Fernando Pessoa zu sein scheint. Pessoa-Kennern dürfte schon aufgefallen sein, dass Ricardo Reis nichts anderes ist als eines der Heteronyme, die Pessoa zu seinen Lebzeiten tatsächlich erschuf. Sein Alter Ego trifft in Lissabon nun überraschend auf den verstorbenen Pessoa, der als Erinnerung in schemenhafter Gestalt durch die Stadt flaniert. Bis ein Mensch wirklich aus der Welt verschwinde, dauere gemeinhin genauso lange, wie ins Leben zu kommen, eröffnet der verstorbene Schriftsteller dem überraschten Reis: neun Monate. Diese verbliebene Zeit schildert der 2010 verstorbene Saramago in dem Roman und begleitet Ricardo Reis durch Lissabon.
Die Reflexionen eines SchriftstellersDieser sucht nach seiner Ankunft ein Hotel nahe des Tejo auf, wo fortan alle Handlungsstränge zusammenfließen. Er beginnt eine Liebesaffäre mit dem Zimmermädchen Lídia, die zufälligerweise denselben Namen trägt wie eine unbekannte, fiktive Geliebte in Reis’ Oden; er verliebt sich überdies in Marcenda, eine junge Frau, die aufgrund einer leichten körperlichen Behinderung allmonatlich einen Arzt in Lissabon aufsucht. Mit ihr hat er ein platonisches Verhältnis, welches immer wieder in seinen Gesprächen mit Pessoa thematisiert wird. Insbesondere diese sowie viele innere Monologe Reis’ nutzt Saramago eindrucksvoll, um dem Leser zu vermitteln, dass die Welt offenbar teilnahmslos am Protagonisten vorbeizieht, obwohl sich in seinem Leben einschneidende Veränderungen ergeben. Pessoa, stets etwas belächelnd und von oben herab, kommentiert das zögerliche Verhalten des Protagonisten. Dabei versteht es Saramago, die besondere Konstellation des eigentlich Verstorbenen mit dem von ihm erschaffenen Reis immer wieder für interessante Reflexionen zu nutzen. Sie liefern sich stets kleinere verbale Auseinandersetzungen, die letztlich immer um das geschriebene oder gesprochene Wort und seine Bedeutungen kreisen. Die enge Verknüpfung der beiden Protagonisten, die durchzogen ist vom Ich-Bezug Ricardo Reis’, kommt auch dadurch gut zum Ausdruck, dass es im gesamten Text keine hervorgehobene wörtliche Rede gibt. Alles fließt ineinander, geht auseinander hervor und verschmilzt letztlich in langen Gedankenketten, deren Ausgangspunkt immer Ricardo Reis zu sein scheint. In diese intellektuellen Ränkespiele hinein projiziert sich somit mehr und mehr der Verdacht, dass Worte alleine zwar Erinnerungen und Sehnsüchte auszudrücken vermögen, ihre Bedeutung und Kraft jedoch von mehr als ihrer Existenz alleine abhängt.
In stets bildhafter Sprache konstruiert Saramago einen Roman, dessen Sprachgewalt selbst in den Passagen beeindruckt, in denen die Handlung kaum voranschreitet. Seine Sprache ist stets Ausdruck der Gefühlswelt Ricardo Reis´, wird jedoch komplexer, da die Perspektive oft zwischen Reis und einem unbekannten Erzähler zu schwanken scheint. Hier macht es sich der Autor zunutze, dass der gesamte Roman so angelegt ist, dass die Erzählhaltung naturgemäß schwebend ist: Schließlich kann Pessoa als Untoter souverän auf das noch Lebendige schauen und ist insofern Teil davon, da Ricardo Reis nicht viel mehr ist, als die Sprachgewalt Pessoas selbst. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass mit dem im weiter voranschreitenden Verblassen Pessoas schließlich auch Ricardo Reis seine Konturen verliert.
»Er versucht in Gleichnissen, eine fliehende Wirklichkeit sichtbar zu machen«, heißt es in der Begründung des Nobelpreiskomitees, mit der es Saramago 1998 zum Preisträger kürte. In Das Todesjahr des Ricardo Reis löst Saramago dieses Versprechen ein, indem er die Wirklichkeit der historischen Ereignisse durch Ricardo Reis als Tatsache präsentiert und gerade deshalb die Frage aufwirft, wie es gelingen kann, Worten die Macht zu geben, Geschichte zu schreiben. Neben einer beeindruckenden und kritischen Darstellung der Historie gelingt ihm somit auch eine literarische Hommage an Fernando Pessoa und sein Werk.