Mit ihrem aktuellen Gedichtband Monster Poems sowie mit früheren Texten lässt es Sprachakrobatin Nora Gomringer den Gästen im Literarischen Zentrum Göttingen gleichzeitig kalt den Rücken herunterlaufen und warm ums Herz werden – ein bewegender Abend.
Von Madita Oeming
Während unten der Biergarten mit Abendsonne und WM-Achtelfinale lockt, sammeln sich oben im Literarischen Zentrum all diejenigen, die es vorziehen, junger Poesie zu lauschen. Vom Studenten bis zum Rentner – bunt gemischt. Man trinkt Wein, tauscht Hallos und Umarmungen aus. Man kennt sich. Auf der kleinen Bühne unter Fachwerkgebälk sitzt sie, Dreh- und Angelpunkt des Abends, mit pinker Bluse, knallroten Lippen und großer goldener Statementkette: Nora Gomringer.
»Ich bin erkannt«, sagt sie lächelnd nach der kurzen Einführung ihrer Person. Ihre angerissene Biografie beeindruckt. Schnappschüsse eines bewegten Lebens zwischen Bamberg und New York, zwischen Goethe-Institut und Künstlerhaus. Mit gerade einmal 20 veröffentlichte sie ihren Debütband Gedichte. Sieben Lyrikbände tragen mittlerweile ihren Namen, einige bereits übersetzt. Lyrikerin, Rezitatorin, Poetry-Slammerin, mehrfache Kulturpreisträgerin. Man fragt sich, wie all das in ihr gerade einmal 34-jähriges Dasein passt.
Vorhang auf!Ohne langes Vorgeplänkel beginnt Nora Gomringer die Lesung. »Ich werde etwas mit der Sprache machen« ist der Titel des Textes, den sie als Auftakt dieses Abends wählt. Und ob sie das tut! Innerhalb von Sekunden verwandelt sie mit dem einnehmenden Klang ihrer vollen Stimme den Raum in ein Theater. Obwohl niemand einen Scheinwerfer angeworfen hat, fühlt es sich so an. Alles hängt an ihren Lippen.
Wer Nora Gomringer vorher noch nicht kannte, ahnt jetzt »laaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaangsaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaam«, was ihre Texte ausmacht: Sie haben eine Melodie, einen Rhythmus. Dass sie im zweiten Gedicht auf Lawrence Ferlighetti referiert, der über Ginsberg trauert – »Hoooooooooowling over Allen« – hat selbstreflexiven Charakter. Die Beat-Dichter stehen für orale Poesie, für die Symbiose von Klang und Inhalt, manchmal sogar die Überordnung des ersteren über das letztere. Man kann sich gut vorstellen, wie selbst ein Publikum, das kein bisschen Deutsch versteht, Gomringers Sprechtexte genießt. »Diese Sprache, meine Sprache, ihr Effekt«. In der ersten Reihe nickt eine Zuhörerin im Takt der Worte mit dem Kopf.
Unverliebte Liebeslyrik & Lyrik lebender DichterMan stellt sie immer wieder, diese Frage: Wie kann man heute, im 21. Jahrhundert, noch etwas Neues über ein Gefühl schreiben, das seit Menschengedenken besungen, beklagt, bejubelt wird? Die Liebe – kein einfaches Sujet. Doch Gomringer schafft es ohne auch nur eine einzige abgedroschene Metapher, diese uns allen bekannte und doch immer wieder unverständliche Emotion zu versprachlichen. Der Tisch, den einer für die Falsche baut, der Hals, der wie der Wetterhahn schmeckt, und der Verlorene, der noch in der halbausgedrückten Zahnpastatube steckt, berühren ohne kitschig zu sein. Ihre unverliebten Texte über die Liebe gehen ans Herz.
Immer wieder schafft Gomringer es, nach solch klirrend leisen Momenten mit einer Ge-schichte das Leben in den Raum zurück zu holen. So erzählt sie nach einem kleinen Räuspern von dem skurrilen Anruf einer Schülerin, die sich in ihrer Abiturprüfung mutig gegen Goethe und für Gomringer entschied, eine schlechte Note dafür bekam und sich nun in der festen Überzeugung, den Kern des Gedichtes erfasst zu haben, bittend an die Autorin wandte. Eine Musterinterpretation ihres eigenen Werkes schickte Gomringer ans Ministerium und rettete damit einen Abiturschnitt. Ein Hoch auf die lebenden Dichter! Denn Goethe hätte man wohl schwer anrufen können.
Der Abend lebt von solchen kleinen Anekdoten. Seien es die Fotos von ahnungslos grinsenden Patienten vor dem Sofa einer Paartherapiepraxis, über dem ihr Trennungs-Gedicht als Wandtattoo hängt, oder Prenzelberger Nasen, die über babyfeindliche Gedichte gerümpft werden. Es macht die Texte selbst lebendiger, wenn ihre Schöpferin noch lebendig genug ist, von deren Nachleben zu erzählen.
MonströsErst spät kommt Gomringer auf ihr neustes Werk zu sprechen. Monster Poems heißt es. 2013 ist es bei Voland & Quist erschienen, nach Druckertinte riecht es und knallgelb ist es. Auffällig im Lyrikregal, bemerkt sie, in dem der Standardeinband ja eher wie ein Konfirmand aus-sehe: blass. Selbst von innen ist es bunt, denn Illustrationen von Raimar Limmer visualisieren das Geschriebene. Die beigelegte CD mit Vorgelesenem komplettiert den intermedialen Charakter, dem während der Lesung eine Projektion auf der Leinwand gerecht wird.
Der Begriff des Monsters habe sich gewandelt, sagt Gomringer. All seine Gesichter gaffen einen aus den Seiten dieses Buches an. Von King Kong über Herrn Fritzl zum alt gewordenen Richard Gere. Bindeglied der darin vereinten vielseitigen Texte ist das Unheimliche, das sich wie Ariadnes Faden um die Buchstaben schlängelt und sich einem manchmal wie eine Schlinge um den Hals legt. Missbrauch und Mord, Opfer und Täter und die Nähe dieser bei-den Zustände im Mit-Schuldigsein und Mit-Ekligsein – Gomringer verschließt die Augen nicht vor der inneren Hässlichkeit der Menschen und bricht mutig das Schweigen darüber.
Deutsche Sprache kann vielOder besser gesagt, Nora Gomringer kann viel mit deutscher Sprache. Ganz anders als die in einem ihrer Gedichte evozierte Olympia, die nichts als »Ach, Ach!« sagen kann, scheint Gomringers eigener Wortschatz unerschöpflich. Und wo dennoch kein Wort passt, wird einfach ein neues gebaut. Das »Nichtjahr«, der »Tintenblutschwall«, das »Brustbeet«, die »ohnemöse Frau« und die »Mondzicke« – mit großer Freude spielt sie mit der Sprache. Ob Englisch, Deutsch, bayerischer Dialekt, Hunde- oder sogar Froschkönigsprache, jeder Text hat seine ureigene Stimme und ist dabei stets wortgewandt und frisch.
Thematisch hangelt sie sich kreuz und quer durch Zeit und Raum, mit Referenzen von griechischer und japanischer Mythologie über deutsches Märchen- und Dichtergut bis zu Eco, Hitler und Böcklin. Wie den Zeichensprache lernenden Menschenaffen, von denen sie voll Demut berichtet, reicht es auch ihr nicht, »die Banane benennen zu können«. Nora Gomrin-ger hinterfragt, hält fest, bleibt stehen, schaut voraus. Zwei Jahre brauche sie für hundert Gedichte – welch gut investierte Zeit.
»Hat keiner gesagt, dass das Spaß wird«, sagt sie in einem der verstummten Momente des Abends. Und war es doch! Ob etwas alltäglich ist, »hängt vom jeweiligen Tag im All ab«, heißt es in einem Gedicht. Doch man kann sich keinen Tag vorstellen, an dem das hier nicht besonders gewesen wäre. Nora Gomringer ist sprachbegabt, sprachbegeistert, sprachbesessen. Ihre Texte beklemmend und verzaubernd zugleich. Sie schreibt Worte, die gesprochen werden, die leben und erlebt werden wollen. Nicht allein im stillen Kämmerlein, sondern mit anderen. Wie hier an diesem Abend. Auf der Bühne. Laut! Und manchmal ganz leise. Man schließt die Augen, um den Klang aufzusaugen und denkt: mehr davon!