Wie viele Geheimnisse verträgt das Leben? Ist ein Betrug ein Betrug, wenn niemand ihn bemerkt? Und wann ist es Zeit für die Wahrheit? Diese und weitere Fragen verhandelt Julia Jessen in ihrem im Antje Kunstmann Verlag erschienenen Debüt Alles wird hell. Ein eigenwilliger und höchst ungewöhnlicher Roman, meint Elisabeth Böker.
Von Elisabeth Böker
Oda ist fünf Jahre alt. Weil sie so jung ist, erlaubt ihre Oma ihr nicht, alleine weiter als bis nach vorne zur Straße zu gehen. Aber natürlich geht die kleine Oda weiter, da sie wissen möchte, was dann passiert. Das ist ihr erstes Geheimnis im Leben. Ein Kleinkindgeheimnis oder auch ein Geheimnis von jemandem, der erstmals testen möchte, wie es ist, gegen die Vorschriften der Erwachsenen zu verstoßen. Es wird längst nicht Odas einziges Geheimnis im Leben bleiben.
Als Jugendliche bemüht sich Oda noch darum, Andeutungen zu machen, die ihr Umfeld auf ihre Geheimnisse stoßen sollen. Beispielsweise fängt sie einmal an zu erzählen, wie es sich anfühlt, wenn man sich einen Flummi in die Unterhose steckt: «Sie will meine Geschichte mit dem Flummi nicht hören. Warum eigentlich nicht?« fragt sich Oda sogar noch in dem Alter, als längst schon niemand mehr auf ihre Andeutungen eingeht.
Mit der Zeit begreift sie, dass niemand ihre Geheimnisse aufdecken wird, egal wie unmissverständlich sie ihre Andeutungen formuliert. Immer öfter nutzt sie das aus und hintergeht hemmungslos. Als verheiratete Frau, als sie sich noch ein zweites Kind wünscht, ihr Mann aber nicht, kauft sie beispielsweise nach jedem Fremdgehen bei Aldi eine Rose. Diese pflanzt sie in ihren Garten – als Denkmal für ihre Taten. Niemand ahnt, welche Symbolik sich in den neun Rosensträuchern verbirgt. Wie ist es möglich, dass die Liebe sowohl den unerfüllten Kinderwunsch wie auch das Vergehen überstehen kann? Vielleicht gerade dadurch, dass die Geheimnisse nicht aufgedeckt werden?
Nur einmal gibt Oda doch ein Erlebnis preis. Im hohen Alter erzählt sie ihrem Sohn das, was sie ihrem sterbenskranken Mann versprochen hat, auch wenn sie ihm schwören musste, es nicht zu verraten.
Eigenwillig, knapp, ungewöhnlichIn diesem Roman wird eine ganze Lebensgeschichte verhandelt. Wir lernen Oda als Kind kennen und verabschieden uns von ihr in ihren letzten Lebenstagen. Dabei werfen wir den Blick schlaglichtartig auf zentrale Ereignisse in ihrem Leben. Das Aussparen der Entwicklungsarbeit ist definitiv eine gute Entscheidung der Autorin gewesen, da gerade in diesen meist überraschend auftretenden Sprüngen viel Kraft und Überraschung steckt.
Eigenwillig und ungewöhnlich. So lässt sich Julia Jessens Debütroman Alles wird hell am treffendsten beschreiben. Denn eigenwillig und ungewöhnlich ist die Handlung, ist die Protagonistin, ist der Stil des Debüts der 40-jährigen Autorin. Oda ist eine Figur, die man kaum greifen kann, da sie sehr verschiedene Charakterseiten hat. Zerrissenheit gehört zu ihr genauso wie Selbstzweifel und Arroganz sowie der Wunsch, ein eigenständiges, freies Leben zu führen. Der Stil ist knapp. Sehr kurze Sätze zeichnen den Roman aus und verleihen ihm daher einen eigenen Ton. Zwischen die einzelnen Lebensphasen strickt die Autorin immer wieder stilistische Brüche hinein, die manchmal sehr bemüht erscheinen. Trotz oder gerade wegen dieser Eigenwilligkeiten steckt viel Stärke im Roman.