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Reihe: Jenseits des Kanons
Genial unter Vorbehalt

Im späten 19. Jahrhundert galt Marie von Ebner-Eschenbach als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Österreichs. Ihr jüngst neu aufgelegter Roman Lotti, die Uhrmacherin lädt dazu ein, sie der Vergessenheit zu entreißen. Ihre Werke gehören auf die einschlägigen Leselisten!

Von Stefan Walfort

Männliche Autoren sind grundsätzlich Genies. Darunter versteht die Literaturwissenschaft, erst einmal rein definitorisch, jemanden »von singulärer intellektueller bzw. künstlerischer Begabung«1. So einer ist beispielsweise Hermann von Halwig, eine der Hauptfiguren aus Marie von Ebner-Eschenbachs 1879 verfassten und jüngst bei Reclam neu aufgelegten Roman Lotti, die Uhrmacherin, dessen Handlung im ausgehenden 19. Jahrhundert zu verorten ist. Halwig ist derart genial, dass alle ihm seinen Erfolg neiden. Im Verlauf seiner Karriere wird ihm immer klarer: »›Es gibt

Reihe

Die ausgetretenen Pfade des literarischen Kanons verlassend setzen die Autor*innen dieser Reihe sich mit Dichterinnen, Denkerinnen, Schriftstellerinnen auseinander, deren Werke oft ganz zu Unrecht im Schatten kanonischer Texte liegen und hier in Teilen neu entdeckt werden können. Weitere Beiträge folgen hier.

 
 
keine Zeitschrift, kein Journal, das nicht um meine Mitarbeiterschaft buhlt; wenige Autoren dürfen sich rühmen, so viel gelesen zu werden wie ich‹«. Und weil das so selbstverständlich ist und er so ohne jeden Anflug eines Zweifels daran glaubt, muss er dauernd mit Nachdruck darauf insistieren. Schreibblockaden, verstreichende Deadlines, ein verprellter Verleger? Sind natürlich nur der »Missgunst« anderer geschuldet, niemals dem eigenen Unvermögen.

Mit so einem Genie lässt Charlotte Feßler, genannt Fräulein Lotti, sich ein – obwohl Halwig schon bei der ersten Begegnung mit ihr den misogynen Macker heraushängen lässt: Um den Wert einer Uhr prüfen zu lassen, taucht er in der Uhrmacherwerkstatt ihres Vaters auf. Verblüfft nimmt er zur Kenntnis, dass der Alte seine Tochter nach ihrer Expertise befragt: »›Wie, sprach der Fremde ein wenig spöttisch und sehr erstaunt, sind Sie Kennerin, mein Fräulein?‹«. Sie erträgt Jahre der Ehe mit ihm, in denen er purem Wahn freien Lauf lässt. Abwechselnd betet er Lotti entweder an oder tyrannisiert sie. Sobald er seine Dichtkunst nicht genügend wertgeschätzt sieht, reagiert er aufbrausend. Als sie sich von ihm trennt, kommt erneut zum Vorschein, wie sehr er noch immer am männlichen Geniekultdenken festhält. Zu einem Bild des inzwischen verstorbenen Vaters von Lotti aufschauend meint er: »Ihr Vater … Ihr Vater, das war ein Mann‹«. Lottis eigene Leistungen würdigt Halwig hingegen mit keiner Silbe.

Immer genügen winzigste Anzeichen, um ihn auf die Palme zu bringen. Selbst wenn Lotti beschwichtigend versichert, »dass ihr alles gefalle, was von ihm ersonnen sei«, wittert er darin Spuren von Unaufrichtigkeit. Nicht zu Unrecht, denn Lotti, die sowohl ihren Geschmack als auch ihren Verstand regelmäßig an Klassikern der Weltliteratur schult, weiß das Halweg᾽sche Geschreibsel adäquat einzuschätzen: »Im Großen und Ganzen« bringt das Genie nicht mehr zustande als »die klägliche Missgeburt des schreiblustigen Jahrtausends: de[n] Sensationsroman«. Dennoch bleibt Lottis Herz an ihrem Ex-Mann hängen. Auch fünfzehn Jahre nach dem Ehedesaster will sie ihm noch helfen. Sie verkauft sogar eine vom Vater geerbte Uhrensammlung, um für Halwig und dessen nicht minder durchgedrehte neue Gattin ein Gut auf dem Land zu erwerben. Lotti glaubt, wenn er aus der »nervös« machenden Stadt2 fortziehe, komme er zur Ruhe und lasse die Finger von der Schriftstellerei.

Ein vieldimensionales Spannungsfeld

Anders als der Titel des Romans vermuten lässt, präsentiert er über weite Teile eher eine Charakterstudie Halwigs als Lottis. Mittels erlebter Rede bekommen die Leser*innen viel von seiner pathologisch-egoistischen Sicht auf Lotti mit. An einigen Stellen erfolgt die Informationsvergabe nur aus externer Sicht; dann erscheint Halwig rätselhaft und unberechenbar. Wie Eva Schörkhuber im Nachwort zur neuen Reclam-Ausgabe zutreffend festhält, macht eine präzise Analyse der Beziehung Halwigs zu Lotti »als eine narzisstische« das Sujet aus – und das »Jahre bevor Siegmund Freud den Begriff des Narzissmus psychoanalytisch ausgearbeitet hat«. Zugleich lässt der Roman den »furor poeticus (die ›Raserei‹ des Dichters während der Arbeit)«,3 der konzeptuell auf Cicero zurückgeht, lächerlich bis bemitleidenswert wirken. Somit unterbreitet der Roman neben einer generellen Kritik am Geniekult – sowohl mit tragischen als auch mit komischen Mitteln – ein Angebot, Multiplikatoren des Kults, Autoritäten überhaupt und mit ihnen Autoritarismus, zu hinterfragen.

In den letzten Jahren werben Teile der Forschung vermehrt für einen differenzierten Blick auf Ebner-Eschenbachs umfangreiches und alles andere als simpel gestricktes Oeuvre. Das ist vor allem der Fall, seit zu Ebner-Eschenbachs 100. Todestag 2016 eine neue Biografie4 und eine neue Leseausgabe der wichtigsten Prosa5 erschien und in Wien eine Tagung über Ebner-Eschenbach als Schriftstellerin zwischen den Welten6 stattfand. Zuvor meldeten sich nicht selten Stimmen zu Wort, die generalisierend und oberflächlich Attribute vergaben wie »sozialkritisch«7 oder »Menschenliebe« verkörpernd.8 In Sachen Emanzipation fächert Lotti jedoch ein vieldimensionales Spannungsfeld auf. Dem werden die beiden Etiketten nicht annähernd gerecht. Ebner-Eschenbach, 1830 in eine mährische Adelsfamilie hineingeboren, hat mit Lotti eine Satire auf Mechanismen geschrieben, unter denen sie selbst lange Zeit litt: Männer bestimmten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wer im Hause Habsburg künstlerisch reüssieren durfte. Schreibende Frauen galten als Ärgernis, erst recht, wenn sie aus adligen Kreisen stammten. Bevor Ebner-Eschenbach als Prosaautorin mit Lotti der Durchbruch glückte, flüchtete sie, die ab 1850 zunächst mit Bühnenstücken auf sich aufmerksam machte, in den Schutz der Anonymität – erstens, weil sie um den Ruf ihrer Familie fürchten musste, zweitens, weil »dramatische Leistungen von Frauen nicht ohne Vorurteil betrachtet würden und sie als Dramatikerin unvoreingenommen beurteilt werden wollte«9.

Eine Frau als Uhrmacherin galt in ähnlicher Weise als Faszinosum – in primär pejorativem Sinn. Schon in der Exposition zu Lotti manifestiert sich die patriarchale Prägung des Metiers über eine symbolisch angelegte Tiefenstruktur: Allesamt männliche Uhrmacher schreiben ihre »große[n] Namen« in allesamt weiblich bezeichnete Uhren ein. Darüber hinaus ist für einen Kunden, der sich für die väterliche Uhrensammlung interessiert, nicht Lotti als neue Chefin die erste Anlaufstelle. Sondern er bittet zunächst und voller Ignoranz wiederholt bei ihrem Stiefbruder Gottfried um entsprechende Auskunft. Inmitten des misogynen Klimas versucht Lotti sich zu behaupten. An fast jeder ihrer Handlungen vergegenwärtigt sich, dass Emanzipation nur als dialektischer Prozess vorstellbar ist, der vermutlich »nie abschließbar«10 sein wird.

Ideologiekritik erster Güte

Die Titelheldin verkörpert sicher nicht einfach nur »ein ideales Menschenbild«.11 Wenn sie Halwig das Geld für die Uhrensammlung hinterherwirft, ist »Mitleid« die zwar nachvollziehbare, aber mitnichten nur zur Affirmation einladende Triebkraft dahinter. Wie sich später herausstellen wird, ist Halwig damit nicht einmal geholfen. Wie man als Leserin schon früh voraussehen kann, erweist sich die Hoffnung, er werde sich bessern, als Irrtum. Doch was kann Vernunft schon ausrichten gegen das Schluchzen eines hilfebedürftigen Menschen? – Gekleidet in ein »›tiefe[s] Negligé‹« tritt Halwigs zweite Ehefrau Agathe Lotti erstmals »mit so weicher bezaubernder Stimme, mit so großen Tränen in den feuchten, flehenden Augen« gegenüber, um Lotti von einer angeblich ausweglosen finanziellen Lage zu überzeugen, in der Agathe und ihr Ehemann angeblich stecken. Dass der Text zuvor noch detailverliebt schildert, in welchem Luxus Agathe eigentlich badet, sei nur nebenbei als besonders irritierendes Moment erwähnt. Mehr noch fällt auf, in wie enge Nachbarschaft die Begriffe »Mitleid« und »Negligé« gebracht werden. »Mitleid ist Liebe im Negligé«, so heißt ein auf den ersten Blick recht merkwürdig wirkender von mehreren hundert Aphorismen Ebner-Eschenbachs. Vor dem Hintergrund der sich ankündigenden Misere im Roman Lotti blitzt darin eine warnende Komponente auf: Mitleid, so lässt sich übersetzen, ist eine Kraft, die zum Destruktiven verführen kann.

Für Ebner-Eschenbach begann mit Lotti ein Aufstieg, in dessen Verlauf sie zur »größte[n] österreichische[n] Dichterin des 19. Jahrhunderts«12 avancierte. Einerseits schlussfolgert Izabela Surynt stichhaltig: »Für das Jahr 1879 […] hatte sie ein Stadium erreicht, das Bewunderung hervorrief, ohne Bürger und Adelige durch revolutionäre und aggressive Tendenzen zu erschrecken«13. Tatsächlich wollte Ebner-Eschenbach von Revolution nichts wissen – weil sie die Gefahr sah, dass Fortschrittswille allzu leicht in Regression umkippen könnte, wenn gewalttätige Umstürze im Spiel sind.14 Andererseits hielt sie dennoch nichts davon ab, Mitgliedern ihres Standes vor den Kopf zu stoßen. Schonungslos karikierte sie die Obrigkeit samt der vor ihr kuschenden Knallköpfe. Eine von ihnen ausgehende Gewalt hat Ebner-Eschenbach 1886 mit der Novelle Er lasst die Hand küssen in besonderer Drastik vorgeführt: Dort entpuppt sich eine zunächst als gutmütig eingeführte Gutsherrin zunehmend als Tugendterroristin.

Im Mittelpunkt stehen der Gutsangestellte Mischka und dessen Streben nach Autonomie im Denken und Handeln, das die Helfer und Helfershelfer der Herrin mit anhaltender Brutalität sanktionieren. Das Hauptthema ist eine blinde Verteidigung regelkonformen Verhaltens, die in letzter Konsequenz bedeutet, dass Aufmüpfigkeit gegenüber den Mächtigen mit dem Tod bestraft wird. Damit bietet die Novelle Ideologiekritik allererster Güte. Streng am analytischen Drama orientiert entfalten sich sukzessive die Ausmaße des Eifers, mit dem der verblödete Pöbel und enge Verwandte Mischka nachstellen. Kalte Schauer jagen einem über den Rücken, wenn Mischkas Vater die schwangere Geliebte seines Sohnes grün und blau prügelt: »Wie wahnsinnig raste der Zornige, schlug drein mit den Füßen und mit dem Stocke, und ließ seinen ganzen Grimm über den Sohn an dem wehrlosen Geschöpfe aus«. Kurz darauf erfahren wir, dass täglich auch Mischkas Mutter Opfer solcher Aggressionen wird. Und zum Schluss, wenn einem als besonders verstörender Höhepunkt vermittelt wird, wie lapidar die Gutsbesitzerin ihr Todesurteil über Mischka verhängt: »›Was will man denn noch mit dem?‹«, so knüpft sie an eine vorherige Passage an, aus der hervorgeht, dass primär reines Kapital-Interesse den grausamen Umgang mit Mischka motiviert.

Von Männern madiggemacht …

Diesmal am Beispiel einer weiblichen Figur problematisiert, ist auch hier Narzissmus dauerpräsent. Wiederholt greift Ebner-Eschenbach das Phänomen auf – so auch in einer Erzählung mit dem Titel Die Reisegefährten, in der ein Arzt einem Mitreisenden auf der Bahnstrecke von Amsterdam nach Leipzig von einem Mord berichtet, den er an einem Patienten begangen habe. Selbstherrlich verklärt er das Verbrechen zur Wohltat für die Familie des Patienten. Narzissmus ist ferner Thema in Ebner-Eschenbachs Drama Die Schauspielerin, wo Helene, ein Bühnenstar, von der notorischen Eifersucht ihres Geliebten Heinrich ganz kirregemacht wird. Ihr berechtigtes Streben nach Autonomie diskreditiert er als »Wahn«. Die Annahme eines Engagements in Petersburg, das für ihr berufliches Fortkommen vielversprechend wäre, versucht er zu hintertreiben. »Des Weibes Beruf heißt lieben, und nicht glänzen« – so lautet nur eine von vielen ›Weisheiten‹, mit denen er auf patriarchale Rollenverteilungen pocht und Helene an sich kettet.

Mussten die Argumente, mit denen sich Theaterdirektoren 1861 weigerten, Ebner-Eschenbachs Stück ins Programm aufzunehmen, nicht damals schon zweifelhaft anmuten? Der Burgtheater-Chef Heinrich Laube schrieb an Ebner-Eschenbach, das Publikum verlange nach »Genüge des Herzens, lustig oder traurig. Ein Ergebniß des Verstandes, wie hier die Einsicht, daß die beiden Leute [Helene und Heinrich] nicht zusammengehören, ist ihm eine unerquickliche Enttäuschung«15. Das Ergebnis, das Laube hier madigmacht – eine Annahme des Engagements in Petersburg und die Trennung Helenes von Heinrich – ist Resultat eines Emanzipationsprozesses, den Helene durchläuft, wenngleich er nicht weniger dialektisch ausfällt als derjenige Lottis (aus einer Abhängigkeit flieht Helene in die nächste, aus den Fängen Heinrichs in die Klauen eines karrierefixierten Regisseurs). Das Drama Die Schauspielerin war für seine Zeit nicht weniger innovativ als der erst fast zwei Dekaden später erschienene Roman Lotti, die Uhrmacherin. Ebner-Eschenbach war aber zu ihrem Unglück wie alle weiblichen Autorinnen »auf (männliche) Vermittlungsinstanzen angewiesen«16. Zu ihrem und aller Leser*innen Glück ließ sie sich dennoch nicht davon abbringen, hartnäckig an der Schriftstellerei festzuhalten.

Allem – männlichen – Argwohn zum Trotz machte Ebner-Eschenbach diverse dramatische Schriften über den Umweg des Zeitschriftenwesens publik. Schon bald zählte sie zu den Renommiertesten ihres Gewerbes. Die Werke männlicher Autoren hat sie maßgeblich mitgeprägt: Das 1861 verfasste Drama Die Schauspielerin muss für Schnitzlers Bühnenstück Das Märchen von 1893 ein Vorbild gewesen sein; die Nähe der Plots zueinander ist einfach frappierend. Ferner betonte Max Brod, einer der emphatischsten Fürsprecher Ebner-Eschenbachs, mit Verweis auf Autoren des Prager Kreises, sie habe »auf uns alle nachgewirkt«17. Und in der Tat lassen sich in Er lasst die Hand küssen Parallelen zu Kafka, Werfel und anderen erkennen. Andersherum wirkt Die Reisegefährten stark von Tolstois Kreutzersonate beeinflusst. In einer anderen Erzählung, Die Spitzin, gibt es Bezüge zu Kleists Der Findling, und Max Brod sah Ebner-Eschenbach umfassend »von slawischen Einflüssen umspielt«18. Sie hat sich somit auch Stoffe männlicher Kollegen angeeignet, um sie dann produktiv zu etwas Eigenem umzuformen. Wenn man wollte, könnte man Ebner-Eschenbach regelrecht Genialität attestieren. Nur konfligiert der eingangs erwähnte Singularitätsanspruch mit einem breiten intertextuellen Verweisnetz, auf das hier nur anhand weniger Beispiele verwiesen werden kann.

… und dennoch Spuren hinterlassen

Stets schreiben sich Autor*innen in eine Tradition ein. Nie schöpfen sie ihre Ideen aus dem Nichts. Können sie dann überhaupt Genies sein? Allenfalls unter Vorbehalt. Die Literaturwissenschaft weiß das natürlich, und deshalb hat ein affirmatives Verständnis des Genie-Begriffs in wissenschaftlichen Zusammenhängen an und für sich gar nichts zu suchen.19 Als ausschlaggebend für eine wissenschaftliche Bewertung literarischer Werke und gegebenenfalls gar ihre Aufnahme in Kanones, also in »Zusammenstellung[en] als exemplarisch ausgezeichneter und daher für besonders erinnerungswürdig gehaltener Texte«,20 haben sich vielmehr diverse Qualitätskriterien etabliert. Eine seltsam unklar definierte Exklusivität, wie sie solche Typen wie Halwig für sich in Anspruch nehmen, von der aber nebulös bleibt, wer auf welcher Grundlage sie überhaupt bescheinigen kann, gehört damit vergangenen Jahrhunderten an. Trotzdem dominieren noch immer männliche Klassiker die einschlägigen Leselisten. Heißt das etwa, dass weibliche Autorinnen den anerkannten Qualitätskriterien viel weniger genügen?

Zu solcherlei Kriterien gehören unter anderem eine Applikationsfähigkeit der literarischen Sujets für die »Lebenswirklichkeit und Lebenswelt« der Leser*innen, eine »poetische und ästhetische Eigenlogik« des Werks und gerade auch Intertextualität, selbst wenn Letztere für »das Einmaligkeitsbedürfnis des [Autor*innen-]Subjekts« einen Affront

Buch


Marie von Ebner-Eschenbach
Lotti, die Uhrmacherin
Reclam: Stuttgart 2019
202 Seiten, 10,00€

 
 
bedeutet.21 Ebner-Eschenbach wusste um die Gefahr der narzisstischen Kränkung, der jede schriftstellerisch ambitionierte Person einschließlich ihrer selbst sich aussetzt. Sonst hätte sie nicht ausgerechnet dem Narzissten Halwig ihre eigenen Worte in den Mund gelegt: In einem seiner wenigen vernünftigen Momente erinnert er Lotti an den tiefsitzenden Wunsch hinter seinem Drang zur Schriftstellerei: »Wissen Sie noch, wie fest entschlossen ich war, diese Erde, die mich getragen, nicht zu verlassen, ohne ihr die Spur meines Schrittes eingeprägt zu haben?« In leicht abgewandelter Form entspricht das einem O-Ton Ebner-Eschenbachs.22 Während Halwig jedoch zu hoch fliegt, um sein Ziel tatsächlich zu erreichen, erfüllen allein die in dem vorliegenden Essay vorgestellten Titel Ebner-Eschenbachs gängige Qualitätskriterien in hervorragender Weise. Ihr Name gehört eigentlich längst zwischen Brecht und Goethe auf die Leseliste der Göttinger Germanistik.

Vieles ließe sich darüber noch schreiben. Vieles über die Autorin ist durchaus auch schon publiziert worden – zum Beispiel erwähnen diverse Forscher*innen Ebner-Eschenbachs bemerkenswertes Engagement gegen den Antisemitismus, der um 1900 in Kakanien und darüber hinaus in allen politischen Lagern verfing. Über die literaturwissenschaftlichen Fachleser*innen hinaus können bei Ebner-Eschenbach ganz sicher Literaturbegeisterte jeglicher Couleur eine Menge Faszinierendes vorfinden – ob in Kurz- oder in Langform, ob in Prosa oder Versen. Die neue Lotti-Ausgabe ist der ideale Anlass, sogleich mit dem Stöbern anzufangen.

  1. Weimar, Klaus: Art. Genie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin/New York 1997, S. 701.
  2. Der wohl bekannteste Topos der Jahrhundertwende lässt grüßen! Vgl. Surynt, Izabela: Lotti Feßler – eine Charakterstudie. Zum Frauenbild im Werk Marie von Ebner-Eschenbachs am Beispiel der Erzählung »Lotti, die Uhrmacherin«. In: Germanistisches Jahrbuch Polen – Convivium (1994), S. 45, wo Surynt betont, dass Ebner-Eschenbach sich über »die plötzliche ›Nervosität‹ des ganzen Menschengeschlechtes« lustig macht. Am deutlichsten wird das in Lotti an Halwig und dessen neuer Ehefrau Agathe. Doch wie nachhaltig sich Lotti selbst von Halwigs und Agathes Spleens überrumpeln lässt, wie tiefgreifend Lottis Perspektive somit ebenfalls problematisiert wird, entgeht Surynt, die sich viel zu früh darauf festlegt, dass »Lottis Gestalt ein ideales Menschenbild« (dies., S. 41) repräsentiere.
  3. Weimar, Klaus: wie Anm. 1.
  4. Vgl. Strigl, Daniela: Berühmt sein ist nichts. Marie von Ebner-Eschenbach. Eine Biografie. Salzburg/Wien 2016.
  5. Vgl. Polt-Heinzl, Evelyne/Strigl, Daniela/Tanzer, Ulrike (Hg.): Marie von Ebner-Eschenbach. Leseausgabe im Schuber. Salzburg/Wien 2015.
  6. Vgl. Piok, Maria/Tanzer, Ulrike/Waldner, Kyra (Hg.): Marie von Ebner-Eschenbach. Schriftstellerin zwischen den Welten. Innsbruck 2018 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe, Bd. 90).
  7. Vgl. einen diesbezüglich distanzierten Forschungsüberblick bei Seeling, Claudia: Zur Interdependenz von Gender- und Nationaldiskurs bei Marie von Ebner-Eschenbach. St. Ingbert 2008 (= Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft, Bd. 44), S. 26–48, hier S. 26.
  8. Vgl. Surynt, Izabela: wie Anm. 2, S. 37.
  9. Henn, Marianne: Die Dramen im Kontext der Gattung. In: Marie von Ebner-Eschenbach: Gesellschaftsdramen, Künstlerdramen, Lustspiele und Einakter. Kritisch herausgegeben und kommentiert von Marianne Henn. Berlin/New York 2010, S. 952f.
  10. Schmiedt-Kowarzik, Wolfdietrich: Art. Emanzipation. In: Enzyklopädie Philosophie. Bd. 1. Hamburg 1999, S. 302.
  11. Vgl. Surynt, Izabela: wie Anm. 2.
  12. Serke, Jürgen: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Wien/Hamburg 1987, S. 45.
  13. Surynt, Izabela: wie Anm. 2, S. 34.
  14. Vgl. Seeling, Claudia: wie Anm. 7, S. 31.
  15. Zit. nach. Henn, Marianne: wie Anm. 9, S. 244.
  16. Mayer, Franziska/Adam, Franz: Realismus. In: Becher, Peter u.a. (Hg.): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart 2017, S. 154.
  17. Brod, Max: Der Prager Kreis. Mit einem Nachwort von Peter Demetz. Frankfurt am Main 1979, S. 10.
  18. Ebd. (Hervorhebung im Orig; S. W.)
  19. Vgl. Weimar, Klaus: wie Anm. 1, S. 703.
  20. Rosenberg, Rainer: Art. Kanon. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin/New York, S. 224.
  21. Braungart, Wolfgang: Die Kunst ist keine Immaculata. Einige Thesen zur Bedeutung schöner Stellen für die Kanonbildung. Auch der Versuch einer Antwort an Heinz Schlaffer. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, H. 1 (2018), S. 93.
  22. Vgl. Kaindlstorfer, Günter: Die Wiederentdeckung der Marie von Ebner-Eschenbach. 08.03.2016, Url: https://www.deutschlandfunk.de/biografie-die-wiederentdeckung-der-marie-von-ebner.700.de.html?dram:article_id=347769, zuletzt aufgerufen am 08. Juni 2019.


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 Veröffentlicht am 8. Juni 2019
 Kategorie: Misc., Wissenschaft
 von Sophie Taeuber-Arp via Wikimedia Commons gemeinfrei
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 Ein Kommentar
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Ein Kommentar
Kommentare
 Anna
 16. Juni 2019, 13:32 Uhr

“die Obrigkeit samt der vor ihr kuschenden Knallköpfe” – großartig! Ein schöner Text.

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