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Goodbye to Berlin, Göttingen

Das Deutsche Theater spielt und singt Cabaret, eines der erfolgreichsten Musicals weltweit. Göttingen ist begeistert dabei und zugleich das Thema.

Von Janet Boatin

Das Deutsche Theater Göttingen begeht in diesem ausklingenden Jahr ein dreifaches Jubiläum: Vor 120 Jahren wurde das Göttinger Stadttheater nach einem Großbrand näher ans Ostviertel verrückt und als Theater am Wall wiedereröffnet; 60 Jahre danach arbeitete der neue Intendant Heinz Hilpert nicht allein am Schminktopf, als das Haus in Deutsches Theater Göttingen umbenannt wurde; der Berliner Hilpert hätte 2010 seinen 120. Geburtstag gefeiert.

Das sind runde und gute Anlässe, kündigte Mark Zurmühle in der Pressekonferenz zur aktuellen Spielzeit an, um die Geschichte des Deutschen Theaters näher unter die Lupe zu nehmen. Cabaret, eines der weltweit erfolgreichsten Musicals mit Melodien, wer kennt sie nicht, die im Ohr haften bleiben, hatte am 11. Dezember Premiere. Ein musikalischer ›Klassiker‹ auf deutschen Bühnen, der allein in dieser Saison beispielsweise auch in Karlsruhe und Pforzheim inszeniert wird. Ich war gespannt, wie ihn das Göttinger DT an der Einstellung einer Nahsicht auf seine eigene Historie integrieren sollte.

Ich bin eine Kamera, mit offenem Verschluss, nehme auf, registriere nur, denke nicht.1

The Berlin Stories

Die Geschichte von Cabaret handelt von deutscher Geschichte aus einer britisch-amerikanischen Perspektive. Berlin, Ende der 1920er/ Anfang der 1930er Jahre, kurz vor Sylvester ist der Beginn und Schauplatz dieser Geschichte. Im Musical verschmelzen zwei Orte in eins: zum einen der »Kit-Kat-Klub« als Illusions- und Vergnügungsraum, zum anderen eine Pensionswohnung am Nollendorfplatz, in der alle Hauptfiguren (ein Schriftsteller, eine Sängerin, eine Pensionswirtin, ein Gemüsehändler, ein Nazi-Funktionär) aufeinander treffen, als Realitätsraum.

Cabaret ist ein Paradebeispiel einer transnationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die im Medienverbund erzählt wird: zuerst als literarischer Text, dann als Theaterstück, später als Musical und schließlich in Filmsprache. Christopher Isherwood legte mit seinen autobiographischen Erinnerungen an Berlin (»Leb wohl, Berlin« (1939), »The Berlin Stories« (1946)) den Prätext vor. John van Druten schrieb auf dieser Vorlage 1951 das Theaterdrehbuch »I am a camera«. Cabaret als Musical in zwei Akten wurde in den Sechzigern nach dem Drehbuch von Joe Masteroff musikalisch vom Komponisten John Kander und dem Texter Fred Ebb auf die Broadwaybühne gebracht, wo es am 20. November 1966 Premiere feierte. Sein bis heute gespieltes Revival wurde mit vier Tonys ausgezeichnet. Die ebenso berühmte und mit acht Oscars gekrönte Verfilmung von Bob Fosse (Drehbuch: Jay Allen) folgte 1972.

Alle Texte unterscheiden sich, sie fokussieren verschiedene Aspekte des verhalten politisch Erzählten in Isherwoods Erzählungen und Episoden. Starke Schwerpunktverlagerungen, sowohl in der storyline als auch in formaler Hinsicht, bestehen zwischen der Musicalfassung und der Verfilmung mit Liza Minnelli, Michael York, Joel Grey und Fritz Wepper. Extra für den Film wurden die Lieder »Mein Herr«, »Maybe This Time« und »Money, Money« geschrieben – die sich bemerkenswerterweise als die Hits aus Cabaret durchgesetzt haben.2

Die Göttinger Inszenierung macht dieses mediale Sampling, die historische Mehrstimmigkeit von Cabaret durch eine Überblendung am Anfang des Stückes deutlich: Wir hören aus dem Off die Stimme von Philip Hagmann, der die einzige Sprechrolle hat. Er liest aus dem Vorlagentext. Wir sehen ihn bereits auf der Bühne als Clifford Bradshaw im grünen T-Shirt der Modemarke Hollister, Aufdruck: 1922 Finals. Er überlagert live seine Stimme, übernimmt das Wort.

Divine Decadence, Darling

Katharina Heyer als Sally Bowles ist ein Glücksgriff. In Isherwoods Roman bekommt diese Figur ein eigenes Kapitel eingeräumt. In der Fiktion trifft der Schriftsteller Bradshaw auf Sally, eine 19-jährige Engländerin, »lang und hager und totenblaß gepudert«, mit »smaragdgrün« lackierten Fingernägeln.3 Sie singt in der Bar »Lady Windermere«, berühmt will sie werden als große Schauspielerin. Um jeden Preis. Jeden Satz lässt sie mit »Darling« enden. Sally Bowles ist promisk, lebensfroh, etwas verrückt. Sie ist reizend, solange sie oder ihre Männer es sich leisten können. Sie weiß, was sie will: kein Kind. Sally ist sich bewusst, ihrer selbst und auch ihrer Hoffnung:

Maybe this time I’ll be lucky
Maybe this time he’ll stay
Maybe this time for the first time
Love won’t hurry away

He will hold me fast
I’ll be home at last
Not a loser anymore
Like the last time and the time before

Everybody loves a winner
So nobody loved me
Lady Peaceful, Lady Happy
That’s what I long to be

Now all odds are in my favour
Something’s bound to begin
It’s gotta happen, happen sometime
Maybe this time, maybe this time I’ll win

Zur Göttinger Premiere ist Katharina Heyers Stimme bereits auf Hochtouren, ihr Spiel allerdings noch verhalten. Statt schöner Attraktivität könnte es etwas mehr Sex vertragen (selbst wenn die Promiskuität im Musical auf Fräulein Kost und ihre Männerbesuche übertragen wurde). Wir sind schließlich in einem Nachtclub der 30er Jahre (eingebautes Feuerwerk und abschließender Konfettiregen in der Inszenierung bezeugen es).

Immerhin: die Chemie zwischen ihr und dem ob der Entwicklungen im Lande skeptischen Beobachter und wohltemperierten WG-Partner Clifford Bradshaw stimmt; sie switchen gekonnt zwischen Englisch und Deutsch. Auch das zweite Paar des Abends ist tadellos. Wirklich rührend spielen Andrea Strube und Ronny Thalmeyer die Pensionswirtin Fräulein Schneider und den jüdischen Obsthändler Herrn Schultz. Wojo van Brouwer als Nazi-Funktionär Ernst Ludwig rückt dieser Paarung gekonnt auf die Pelle.

Vorstellungen

21., 23., 25., 30. und 31. Dezember 2010 jeweils um 19:45 Uhr im Deutschen Theater Göttingen

 
 
Das Ensemble, musikalisch begleitet vom Orchester unter der Leitung von Hans Kaul, überzeugt, wenngleich nicht alle über ihren Gesang. Karl Miller als Conférencier kommen seine Statur und Physiognomie zugute, als ob er einem Dix oder Grosz entsprungen sei. Sein Spiel reiht sich in die Tradition einer grimassenfazialen Puppenhaftigkeit des Masters of Ceremonies ein, die Joel Grey vorzüglich repräsentiert. Miller ist der schwarze Mann, der Overseer. Er trägt einerseits Androgynie, andererseits Gestapomantel und hochschaftiges Schuhwerk zur Schau. Ja, er ist die Swastika.

Life as a Cabaret

Es ist ein Fehler zu denken, Cabaret sei bloß unterhaltend. Es geht um mehr. Das Musical wirft nicht nur einen Blick auf deutsche Alltagsgeschichte nach der Weltwirtschaftskrise, den Antisemitismus und die sukzessive Machtergreifung nationalsozialistischen Gedankentums. Erstens bespiegelte das Stück am Broadway auch die US-amerikanische Geschichte in den 1960er Jahren, als zu Zeiten des Civil Rights Movements der Ku-Klux-Klan seine Stärke reanimierte. Das Akronym KKK für den Kit-Kat-Klub ist Legion.

Zweitens thematisiert es sexuelle Identität(en) und ist insofern sowohl in den 30ern, 60ern, 70ern als auch 2010 von politischer Brisanz. Über die Verfilmung des Stoffs kann man diesbezüglich kontrovers diskutieren, da beispielsweise Transvestiten zur Lachnummer gemacht werden oder Brian Roberts (so heißt Michael York im Film) zwar als bisexuell dargestellt, aber diese Identität als unehrenhaft unterlaufen wird.

Cabaret zeigt drittens die Lebensform einer Subkultur als Fluchtraum, der er angesichts der politischen Entwicklungen nicht mehr bleiben kann und somit verklärt. Man könnte noch viel mehr deuten. Doch schon hier zeigt sich, dass die Göttinger Inszenierung das Potential des Musicals wenn auch nicht verspielt, so doch nur andeutet.

Tonight we may lose the battle!

Die mehrschichtigen Deutungsebenen des Musicals werden zumeist durch dialogische Erzähl- und Spielpassagen transportiert. Aussagekräftig sind aber auch die verschiedenen Zeitstrukturen und Geschwindigkeiten, die in der Rhythmik der Songs mit schwingt. Im zweiten Akt der Göttinger Inszenierung wird nur leider völlig die Fahrt herausgenommen.

Zudem ergibt sich ein Problem im Aktualisierungsansatz. Das »I-love-Berlin«-Shirt im Hintergrund und das Bühnenbild zeigen zwar einiges, zum Beispiel wie klein die Welt in Göttingen ist. Doch die Inszenierung verlässt sich zu stark auf Symbole, die jedes Kind versteht: Hakenkreuze, Hitlergruß, die Lichtbrechung eines Zugabteils ins KZ, eine Bühnen-Welt in der Schräge. Was dabei in den Hintergrund (noch nicht einmal den Hintergrund der Bühne) gerät, sind die schwerwiegenderen (An)Zeichen, ist die Gewalt der schleichenden Prozessualität, die ins ›Dritte Reich‹ und den Zweiten Weltkrieg führten. Die Veränderungen im Bewusstsein Vieler. Es ist das Nebeneinander von paralysiertem Hinsehen, überzeugtem Mitmachen und aktiver Agitation, die die deutsche Geschichte bestimmt.

1931 war der Kammersänger Paul Stiegler Direktor des Göttinger Stadttheaters. Damals befanden sich im Ensemble »19 Schauspieler und 18 Sänger. Am 11.7.1933 wurde Stiegler auf Vorschlag des Preußischen Theaterausschusses von Göring bestätigt.«4 An der Qualität des Gesangs, der Stimmgewalt des DT hat sich auch im Jahre 2010 nichts geändert.

Gute Nacht -!

Das Göttinger Publikum ist begeistert, lese ich am darauf folgenden Montag im Göttinger Tageblatt. Zwar gab es keine Zugabe-Rufe, aber vollen Zwischenapplaus. Nur nach »Tomorrow belongs to me« setzt er aus. Soll man sich freuen? Wie gut, dass es Algorithmen eindeutiger Identifizierung gibt: Wer einem Klangkörper, der an den Chor der Hitlerjungend erinnert, Beifall klatscht, ist selbst ein Nazi.

Als sich zwei Männer auf der Theaterbühne einen zarten Kuss geben, rücken einige Zuschauer unruhig auf ihren gepolsterten Sitzen, andere werden deutlicher. Ein Mann in den Stuhlreihen hinter mir stöhnte. Nein, nein: angewidert. Er erkundigte sich bei seiner Gattin: »Der ist doch wirklich schwul.« Ich fragte mich zuerst, ob die Göttinger Inszenierung so avanciert ist, einen Bewusstseinsclaqueur inmitten des Publikums zu platzieren, der nicht nur Reaktionen auf Homophobie hervorrufen, sondern auch den im Stück verhandelten, fließenden Übergang von politischer Realität und ästhetischer Illusion unüberhörbar machen sollte. – Vermutlich nicht. Und genau da ist der Haken.

Am Ende des Premiereabends höre ich an der Garderobe Person x Person y zurufen: »War doch nett?!« Und ich denke mir: Wem es reicht.

  1. John van Druten: I am a Camera (1951).
  2. Vgl. Reclams Musicalführer. Stuttgart 2002, S. 334. Weil diese Songs so erfolgreich waren, wurden die Rechte für Theateraufführungen freigegeben. Auch dies ist typisch fürs 20. Jahrhundert: eine Frage nach Originalität.
  3. Christopher Isherwood: Leb wohl, Berlin. Ein Roman in Episoden. Berlin 19985, S. 35.
  4. Henning Rischbieter (Hrsg.): Theater im ›Dritten Reich‹. Theaterpolitik, Spielplanstruktur, NS-Dramatik. Seelze-Velber 2000, S. 130.


Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 19. Dezember 2010
 Mit freundlicher Genehmigung des DT Göttingen
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