Fünf Geschichten, fünf Männer, fünf Todesfälle. Elf Jahre nach dem Debüterfolg Sommerhaus, später und Nichts als Gespenster bringt Judith Hermann erneut einen Erzählungsband heraus. Gleich fünffach beschäftigt sich Hermann in Alice mit dem Sterben. Ganz ohne triefende Emotionen.
von Gesa Husemann
Jüngst entbrannte in den Feuilletons eine absonderliche Debatte über die vermeintliche Ungehörigkeit der sogenannten »Sterbe-« oder »Krebsliteratur«. »Lasst uns mit eurem Krebs, eurem Schlaganfall, eurer Leberzirrhose, eurer Schweinegrippe in Ruhe«, wetterte der FAZ-Kritiker Richard Kämmerlings gegen die Autoren, »erzählt von dem, was zählt, und nicht von Tumormarkern. Erzählt vom Leben. Das Ende kennen wir schon«. Man muss Kämmerlings wohl zum Teil zustimmen, die Verlage schenken derzeit Geschichten über jedermanns tragischen Sterbe- und Krankheitsprozess eine besonders große Aufmerksamkeit. Christoph Schlingensief veröffentlicht sein »Krebstagebuch«, Georg Diez schreibt über den Tod seiner Mutter, veröffentlicht sogar Teile ihrer Krankenakte. Tod und Krankheit sind gerade literarische Alltäglichkeit, statt gesellschaftlichem Tabu Modethema unter Autoren. Aber aus diesem Grund sollte man das Thema Tod wohl nicht gleich aus der Literatur verbannen wollen. Mit dem Sterben kann schließlich auch weniger boulevardesk und entblößend umgegangen werden. Wie, das zeigt zum Beispiel Judith Hermann.
Judith Hermann beschäftigt sich gleich fünffach mit dem Sterben in ihrem Geschichtenband Alice. Elf Jahre nach dem Debüterfolg Sommerhaus, später und Nichts als Gespenster bringt sie erneut einen Erzählungsband heraus, der sich eher wie ein Roman mit fünf Kapiteln liest. Fünf Geschichten, fünf Männer, fünf Todesfälle. Fünf Mal der Verlust von Menschen, die irgendwann einmal auf verschiedenen Stufen im Leben der in jeder Geschichte präsenten Protagonistin Alice einen Platz eingenommen haben – Micha, Conrad, Richard, Malte und Raymond.
Aber Judith Hermann schreibt nicht schlichtweg über das Ende, den Tod, sondern vielmehr über das Phänomen der Leere, die der Tod im Leben anderer hinterlässt. Diesen grubendunklen, nicht zu denkenden Hohlraum, der sich ganz plötzlich auftut, versucht Judith Hermann in Alice mit Worten zu füllen. Und doch liegt die Bedeutung oft in der Lücke, im Nichtgesagten statt im Gesagten. »Sie hatte keine Worte für das, was sie eigentlich sagen wollte«, denkt Alice an einer Stelle, als sie mit der gerade verwitweten Frau von Micha spricht. Und stattdessen sagt sie etwas Anderes, belanglos Alltägliches. Die Präsenz des Nichtausgesprochenen zieht sich durch alle Geschichten und scheint Hermanns Leitgedanke zu sein. Der eigentliche Tod von Personen nimmt nur eine kleine Stelle in den Geschichten ein und kommt daher mit vielen Aussparungen und Mulden.
In einem nüchtern schnörkellosen, fast kalten Sprachstil versucht Hermann die Unfassbarkeit und gleichzeitige Alltäglichkeit des Todes auszudrücken. Von Todesfall zu Todesfall wird an den involvierten Figuren deutlicher, wie problematisch es ist, sich mit etwas plötzlich nicht mehr Existenten auseinanderzusetzen, und wie groß der Drang ist, diese Grube, die sich in dem sonst so makellos gepflasterten Alltag auftut, wieder abzudecken.
Dabei nähert sich Hermann dem Thema Tod auf ganz unterschiedliche Weise, schildert schonungslos einerseits die für den Leser erschreckend sachliche, praktischorientierte Handhabung eines bevorstehenden Todes, die Vorbereitung der Beerdigung mit dem Sterbenden, das Festsetzen eines Termins und das Warten auf den eintretenden Tod gespickt mit magenschweren Aussagen der Angehörigen wie »Und wenn er bis dahin nicht gestorben ist?« »Oh bis dahin wird er es geschafft haben.«. Andererseits beschreibt Judith Hermann das, was nach der planbaren und bürokratischen Abwicklung eines Todesfalls kommt. Ein Bedeutungsnichts, das wieder zu einem Etwas zusammengesetzt werden muss.
Hermann setzt die tapfere Standhaftigkeit der Dinge gegen die Vergänglichkeit des Lebenden. Verdinglichte Erinnerungen in Form eines angebissenen Mandelhörnchens, eines zweiten, überflüssigen Kopfkissens, eines einzelnen Handschuhs, bleiben omnipräsent zurück; die Person an sich verschwindet, die Erinnerung an sie wird nebulös, entrückt. Was bleibt, ist nur noch ein Gedankenstrich.
Die morbide Stimmung, erzeugt durch Hermanns Bildsprache, durchzieht die Geschichten konsequent. Ein Insekt, was im Milchschaum eines Latte Macchiato auf der Terrasse des Cafés in Salo ertrinkt, »kaltblütige Eidechsen«, eine »rotschwarz gesprenkelte Flut von flüchtenden Käfern, nicht enden wollend«. Mit Weltraummetaphern beschreibt Hermann passend das Gefühl der Haltlosigkeit, Astronauten, die nirgends Halt finden, und Planeten, die scheinbar isoliert und planlos, trotzdem irgendwie ihrer gewohnten Bahn folgen. Die nüchterne, reduktionistische Sprache liest sich angenehm, es gibt keine überflüssigen Satzzeichen und die sonst dieses Thema begleitenden emotionstriefenden Adjektive sind rar. Die Geschichten haben einen fast elliptischen Einstieg, der den Leser ohne Vorgeplänkel direkt in die Story manövriert. Zum Teil beginnen sie ganz beiläufig »Sie hatten eine Wegbeschreibung«, andere steigen direkt in die Thematik ein, wie die erste Geschichte »Aber Micha starb nicht« oder »Nachdem Raymond gestorben war, begann Alice damit, seine Sachen wegzuschaffen«.
Neben der Protagonistin verbinden sich wiederholende Motive, Aussagen und wiederkehrende Personen die Geschichten. Da Thematik und Sprache der Geschichten aber weitestgehend einheitlich bleiben, gestaltet sich das Leseerlebnis nach der zweiten Geschichte etwas monoton. Die Figuren bleiben nur schemenhaft und sind oft wenig eingängig. Doch das passt zum Konzept Hermanns. Zuletzt fragt man sich nur noch, warum der Rumäne nur »der Rumäne« ist, und nicht mit einem Namen beehrt wurde.
Aber manche Lücken müssen eben bleiben. Nach diesem Prinzip verhandelt Hermann auch das Thema Tod in Alice. Es müssen nicht aus Gründen der Fassbarkeit alle Details eines Leidensweges beschrieben, gar Teile einer Krankenakte veröffentlicht werden. Der Tod kann auch in seiner Unfassbarkeit dargestellt werden. Und in gewisser Weise löst Hermann Kämmerlings Forderung ein. Sie erzählt vom Leben. Vom Leben mit dem Tod.