Jaron Lanier plädiert für einen neuen Humanismus, der die Besonderheit des Menschen im digitalen Zeitalter reflektiert, dabei aber nicht bei der Beschreibung einer Dystopie verharrt, sondern grundsätzlich anregt, sich mit der Frage des Menschseins auseinanderzusetzen.
Von Kai Matuszkiewicz
Die Frankfurter Buchmesse 2014 ist Geschichte, aber was von solchen Messen immer bleibt, sind die diversen Preisträger und in diesem Fall vor allem Lutz Seiler und Jaron Lanier. Das Schaffen beider Autoren bzw. die Werke, für die sie ausgezeichnet wurden, könnten unterschiedlicher nicht sein. Lutz Seiler überzeugte die Jury mit Kruso, einem Typus von Roman, der schon bei Eugen Ruge nicht neu war, aber immer noch preisverdächtig scheint. Der deutsche Literaturbetrieb (für den Film gilt dies freilich auch) arbeitet sich an den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhundert ab, ohne diese wirklich zu bearbeiten. Vielmehr mäandern diese Bücher und Filme im immer selben Duktus mit derselben Rhetorik um dieselben Themen. Sie stehen nicht nur für eine Form der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung ohne Aufarbeitung, sondern lenken den Blick von den gegenwärtig bedeutenden Umwälzungen weg. Der sinnbefreite Blick auf vergangene Diktaturen droht in einer neuen Diktatur zu enden – der Diktatur des Digitalen!
Es ist ein Paradoxon, wenn nicht gar sardonisch, dass ein Medium wie das Internet nicht nur die Möglichkeiten einer Demokratisierung in sich birgt, sondern zugleich die Gefahr der totalen Gleichschaltung einer Welt, die jenseits des Netzes nicht mehr sein kann und eben durch dieses entmündigt zu werden droht. Aber die Personifikation ist hier falsch, nicht das Netz versklavt den Menschen, sondern der Mensch versklavt andere Menschen, indem er die gegebenen technologischen Möglichkeiten nutzt. Digitale Technologien schaffen nicht per se durch die Speicherbarkeit oder Algorithmen die Freiheit ab, sondern Menschen tun dies. Die Neuen Medien sind wie jedes Medium von Missbrauch bedroht und bedrohen ihrerseits hierdurch die Menschen; das ist nichts Neues, dennoch muss man konstatieren, dass die technologischen Möglichkeiten mittlerweile derart umfassend sind, dass die Gefahr der totalitären Nutzung dieser Medien nur umso präsenter und bedrängender ist. Die Frage ist, wie wir mit der Gefahr umgehen. Die Abschaffung dieser Technologien ist vollkommen illusorisch, da wir diese auch nutzen wollen. Hierbei offenbaren sich sehr widersprüchliche Ansichten: Wir wollen personalisierte Werbung im Internet, sodass wir schneller passende Konsumgüter finden, wollen aber nicht, dass unser Surfverhalten aufgezeichnet und gespeichert wird. Wir wollen GPS zur Navigation nutzen, aber nicht, dass Geoprofile von uns angelegt werden und wir wollen unsere Daten überall abrufen können, wehren uns aber dagegen, dass sie auf Servern in Kanada liegen. Wie passt das zusammen? Wir picken uns ganz selbstverständlich nur die Rosinen heraus, wollen den Kuchen aber nicht aufessen. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass alles seinen Preis hat und wir diesen bezahlen müssen. Das stößt auf, in der Wirtschaftspolitik wie im Internet. Wir wollen alle Angebote anderer bitte kostenfrei nutzen, aber andere sollen zur Kasse gebeten werden, wenn unsere eigenen Eigentumsrechte betroffen sind. Wir wollen uns gewaltsam entwendete Aktaufnahmen von Prominenten ansehen, sie auf unsere Festplatten ziehen, diese Menschen damit partiell zu unserem Besitz machen, echauffieren uns aber, wenn jemand unverfängliche Bilder von uns im Garten online stellt.
Das ist nichts anderes als eine Kultur der Scheinheiligkeit und der ungleichen Maßstäbe, die das Internet nicht entwickelt, sondern höchstens beschleunigt hat, da sie immer schon da war, weil sie eben menschlich ist. Und so kommen wir wieder zurück zum Ausgangsproblem der Diskurse um digitale Technologien und deren Nutzung – den Menschen. Nicht die Technik ist das Problem, wir selbst sind das Problem. Neue Medien und Technologien machen uns nicht schwach, sie zeigen uns unsere Schwächen, indem sie die Grenzen des Machbaren erweitern. Das ist eine Gewissheit, so alt wie die Mediengeschichte. Wo es Medien gibt, wird es, gibt es und hat es immer Menschen gegeben, die sie gebraucht haben und ebensolche, die sie missbraucht haben. Wie gehen wir mit diesem Sachverhalt um? Wir können einen digitalen Humanismus einfordern, sollten dabei aber bedenken, dass der Humanismus auch ein Label elitärer Schichten war, die unter dem Deckmantel der Menschenfreundlichkeit egoistische ökonomische oder machtpolitische Intentionen verbargen. Aber eine Kritik am Begriff ist keine Kritik am Konzept. Lanier hat Recht, wenn er in seiner Friedenspreisrede betont, dass wir an die »menschliche Besonderheit glauben« müssen, um »nach einer humanistischen Gesellschaft [zu] streben«. Wir müssen uns fragen, wie wir mit den digitalen Technologien umgehen wollen, wir müssen uns aber auch fragen, wie wir miteinander umgehen wollen. Wir müssen uns fragen, was menschliches Leben, was Freiheit für uns ist und was wir bereit sind, dafür zu zahlen, denn Freiheit ist kein Gut, das man umsonst bekommt: sie hat einen hohen Preis.
Mündige Gesellschaften 3.0In diesem Kontext stellen sich aber nicht nur moral- oder medienphilosophische Fragen, sondern auch solche globaler Natur. Das Internet hat unsere Welt nicht vernetzt, es hat die bereits vorhandenen Vernetzungen genutzt und intensiviert. Das bedeutet, dass wir unsere Probleme nicht nur im Umgang mit diesen medialen Technologien überdenken müssen, sondern generell. Wir brauchen gebildete Humanisten, kritische Geister, die sich nicht blenden lassen, die unangenehme Fragen stellen, die sich nicht unterkriegen lassen und wir brauchen davon kein Dutzend, sondern wir brauchen eine Gesellschaft aus Humanisten. Wir müssen dahin kommen, dem Individuum die bestmöglichen Chancen zukommen zu lassen, um ein mündiges Gemeinschaftsmitglied zu sein. Das Kollektiv an sich ist nicht schlecht, ohne könnten wir kaum leben, aber wir müssen stets imstande sein, unsere Position im Kollektiv wie die Ansichten und Ziele des Kollektivs zu erkennen und zu hinterfragen, um an einem demokratischen Diskurs teilzunehmen, der freilich auch online stattfindet.
Wie kann es sein, dass die Politik eine digitale Agenda ausgibt, aber gleichzeitig zahlreiche Fakultäten und Institute an Hochschulen geschlossen werden sollen (darunter freilich die informatischen)? Sachsen-Anhalt ist da nur das aktuelle Beispiel. Das führt dazu, dass das kritische Individuum bedroht ist und systematisch immer weiter amputiert wird. Die Fragen des Zeitalters der Digitalisierung sind immer noch Fragen nach dem Bild, der Rolle und dem Wert des menschlichen Lebens. Nicht nur Facebook, Amazon und Google wollen uns überwachen, sondern jeder, der in einem Diskurs den Ort des legitimen Sprechens einnimmt, jeder, der Macht hat, fürchtet sie zu verlieren und manipuliert und kontrolliert deswegen andere, Foucault hat darauf nachdrücklich hingewiesen. Wir als freie Menschen sind dafür verantwortlich, die Freiheit zu verteidigen, damit wir nicht in einer unfreien Welt, einer Dystopie enden. Da hat sich von Orwell bis Eggers wenig geändert – unfrei bleibt unfrei, vielleicht gerade im digitalen Zeitalter. Es wäre deshalb ratsam, die Augen zu öffnen und die Prioritäten zu klären, denn Totalitarismus und Unmenschlichkeit gab es im Dritten Reich und der DDR genauso wie heute und wird es immer geben. Wenn wir durch den wachsamen Blick auf die Vergangenheit unsere Aufmerksamkeit von der Gegenwart abwenden, wird die Wahrscheinlichkeit immer größer, in jene gefürchtete Unfreiheit zu geraten. Dann wachen wir vielleicht morgen unvermittelt im Circle auf und niemand hat es kommen sehen.
Jaron Lanier gehört zu jenen Intellektuellen des digitalen Zeitalters, die genau diese Gefahr sehen und unablässig vor ihr warnen, womit auch die Jury ihre diesjährige Auswahl begründet: »Eindringlich weist Jaron Lanier auf die Gefahren hin, die unserer offenen Gesellschaft drohen, wenn ihr die Macht der Gestaltung entzogen wird und wenn Menschen, trotz eines Gewinns an Vielfalt und Freiheit, auf digitale Kategorien reduziert werden. Sein jüngstes Werk Wem gehört die Zukunft wird somit zu einem Appell, wachsam gegenüber Unfreiheit, Missbrauch und Überwachung zu sein und der digitalen Welt Strukturen vorzugeben, die die Rechte des Individuums beachten und die demokratische Teilhabe aller fördern. Mit der Forderung, dem schöpferischen Beitrag des einzelnen im Internet einen nachhaltigen und ökonomischen Wert zu sichern, setzt Jaron Lanier sich für das Bewahren der humanen Werte ein, die Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens, auch in der digitalen Welt, sind.« Als Friedenpreisträger des Deutschen Buchhandels 2014 schenken wir ihm und seinem Anliegen hoffentlich mehr Gehör!