In diesem Jahr öffneten die ›Internationalen Spieltage‹ in Essen wieder ihre Tore und entführten Spielefans in die Welt der analogen Spiele. Neben bekannten Spielen, Genres und Themen gab es wie immer viele Neuheiten und eine Community, die diese Messe besonders macht.
Von Kai Matuszkiewicz
Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga beschreibt das Spiel in seinem Buch Homo ludens als vom gewöhnlichen Leben abgegrenzt, in sich abgeschlossen. Das Spiel bildet demnach einen magischen Raum, der oftmals als ›Zauberkreis‹ bezeichnet wird. Wenn wir spielen, betreten wir eine magische Welt, in der andere Regeln gelten, Wunder auf uns warten. Derartige Konzepte erinnern an die strukturelle Beschreibung von Ritualen und diese weisen tatsächlich frappierende Ähnlichkeiten mit dem Spielen auf. Wenn wir ein Spiel beginnen, dann lösen wir uns aus unserer gewohnten Welt (Trennungsphase), treten in den immersiven Zustand des Spielens ein (Schwellenphase) und kehren anschließend in unsere gewohnte Welt zurück (Angliederungsphase).
Dies gilt aber nicht nur für Rituale und Spiele, es gilt auch für Events wie Messen und dementsprechend in doppelter Weise für Spielmessen. Sobald man den berühmten Parkplatz P10 der Messe Essen ansteuert und sich nach längerem Warten in die Shuttlebusse begibt, aber spätestens, wenn man die eigentlichen Messehallen betritt, ist man im Essener Zauberkreis, man hat die ›Internationalen Spieltage‹ (kurz Spiel’19) erreicht und eine magische Wunderwelt öffnet sich vor einem.
Viel VertrautesDiese Wunderwelt ist dabei sehr vertraut, wird sie doch seit Jahren mehr oder weniger von denselben Genres beherrscht. Thematisch-inhaltlich dominieren Spiele in Fantasy-, Mystery- oder Science-Fiction-Settings, deren Design wie Vermarktung die ikonischen Vorbilder nicht verhehlen. So begegnet man allerlei Drachen, Elfen und Zauberern, ebenso wie Vampiren, Zombies und Werwölfen oder Aliens und Raumschiffen. Insofern spiegelt sich in der Spielebranche wider, was wir seit Jahren in den transmedialen Welten unserer digitalen Medienkultur erleben – eine Verengung auf einige wenige Genres, die den Mainstreammarkt zunehmend prägen. Game of Thrones, The Walking Dead und Star Wars lassen grüßen bzw. begrüßen die Besuchenden persönlich. Denn wie in transmedialen Welten üblich, ist Merchandise in allen vorstellbaren wie nicht vorstellbaren Formen ein
Aber auch spielmechanisch ist eine gesteigerte Dominanz bestimmter Genres nicht abzustreiten. Strategiespiele beherrschen viele Hallen, Miniaturenspiele scheinen eine Art Patentrezept für den wirtschaftlichen Erfolg zu sein – zumindest lässt ihre Präsenz dies vermuten – und Tabletop-Spiele erobern nicht nur Spielräume auf Tischplatten. Streift man durch die Messehallen, so wirken viele dieser Spiele kaum unterscheidbar. Sie sehen thematisch-inhaltlich nicht nur ähnlich aus, sie bauen auch spielmechanisch vielfach auf Hexagone beim Design des ›Spielbrettes‹, (über-)füllen den Tisch mit Figuren, Tokens, Markern und Karten. Dadurch wirken viele dieser Spiele beliebig und sie können abschreckend erscheinen. Wie in der digitalen Spielbranche, den Eindruck kann man gewinnen, wird auch hier viel dafür getan, um Hardcore Gamer bei der Stange zu halten. Hardcore Gamer stören sich aber nicht daran, wenn die spielerisch-rituelle Trennungsphase durch zum Teil stundenlanges Regelstudium bestimmt wird. Aber was ist mit Spielenden, die nicht nach dem Motto »Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen!« in das Spiel starten wollen, die direkt in den Zauberkreis hineinwollen?
Beyond mainstreamDiese werden, nicht nur metaphorisch gesprochen, an den Rändern der Messe fündig, dort, wo die ganzen kleineren Entwickler zu finden sind, die teilweise noch nach Publishern oder Resellern suchen, die Spiele mit viel Arbeit, eigenem (oder gesammeltem) Geld und Idealismus entwickeln. Hier gibt es einfache, fesselnde Geschicklichkeitsspiele wie die Tennisadaption Set & Match oder interessante Schachvarianten. Skipp kombiniert beispielsweise Schach und Dame spielmechanisch und kreiert hierdurch strategisch interessante, aber dennoch kurzweilige Spielpartien und verfährt dabei nach dem bekannten Aphorismus von Atari-Gründer Nolan Bushnell: Easy to learn, hard to master. In Paco Ŝako schlagen Schachfiguren einander nicht wie bei einer traditionellen Schachpartie, sondern fügen sich beim Aufeinandertreffen in einer ‘Union’ zusammen, sodass beide Spielende diese anschließend ziehen können. Dabei können alle Figuren miteinander Unionen eingehen sowie die unionierten Figuren für neue Unionen verwendet werden können. Hierdurch ergibt sich nicht nur eine zusätzliche Spieldynamik, sondern auch das Spielziel wandelt sich, da es nicht mehr darum geht, den gegnerischen König zu schlagen, sondern eine eigene Figur zuerst mit der des gegnerischen Königs zu vereinen. Dies mag spielmechanisch nur eine geringfügige Modifikation sein, ist aber ideologisch umso bemerkenswerter, da Paco Ŝako hierdurch nicht nur die kriegerischen Implikationen des Schachspiels subvertiert, sondern auch als ein Statement für Frieden und Verständigung in unruhigen Zeiten gedeutet werden kann.
Die Indie-Szene zeigt aber zudem, wie populäre Mainstream-Genres auch aussehen können. Das Strategiekartenspiel Dimentals wird unter einer Lampe mit einer gewöhnlichen und einer Schwarzlichtbirne gespielt, wobei bestimmte Events zwischen diesen beiden ›Modi‹ zu Wechseln führen. Die Schwarzlichtlampe legt dabei zusätzliche Mechanismen und Effekte frei, die eine spielmechanische Vertiefung durch kreativen Hardware-Einbezug ermöglichen. Andoria Battlefields hingegen demonstriert, wie ein Strategiespiel ein immersives Gameplay erzeugen kann, das von kurzweiligen Partien mit Counterplay-Optionen und einem hohen Wiederspielwert lebt. Neben all den positiven Erscheinungen im Indie-Bereich tritt aber auch zuweilen eine (leichte) Eintrübung ein. Es gibt nämlich zum einen viele Entwickelnde, die Trends aus dem Mainstream wenig kreativ übernehmen und zum anderen nimmt die Präsenz von Kickstarter-Projekten merklich zu, wodurch Besuchenden die kommerzielle Ausrichtung, die freilich auch die Indie-Szene haben muss, bewusster wird.
Was vom Spiele übrig bleibtWas bleibt vom Spiel, was bleibt von der Spiel’19 übrig? Da sind zunächst die Zahlen. Die Internationalen Spieltage in Essen sind die größte analoge Spielmesse der Welt. Gemeinsam mit dem ›digitalen‹ Pendant, der ›Gamescom‹ in Köln, sind also die beiden größten Spielmessen der Welt in Deutschland, in der Rhein-Ruhr-Region beheimatet. Wie beim Sport, wie bei den Olympischen Spielen gilt deshalb: schneller, höher, stärker. Es geht immer um Maxime, stets um die folgende Überbietung. So kann auch die Spiel’19 mit Rekorden aufwarten – noch nie gab es so viele Besuchende, Ausstellende und Neuheiten. Aber sind es wirklich nur die Zahlen, die bleiben? Ich finde nicht! Was bleibt, das sind die Spiele und die Menschen.
Der französische Soziologe Roger Caillois, der auf Huizingas Überlegungen aufbaut, nannte sein spielwissenschaftlich prägendes Werk nicht umsonst Die Spiele und die Menschen. Und von den Spielen bleiben nicht nur die Indie-Spiele, es bleiben auch die vielen Spiele der großen Publisher, die erfolgreich sind, weil sie viele Menschen in ihre Wunderwelten führen. Es bleiben die vielen Menschen, die diese Spiel organisatorisch zu dem reibungslosen und spaßerfüllten Event machen, das es für viele ist und es bleiben die Spielenden. Die Gamescom schreibt sich regelmäßig groß auf die Fahnen, ein Fest der Community zu sein, nur um dann die Ansprüche der Fans, der Community, zu unterlaufen. Die Internationalen Spieltage in Essen sind jedoch wirklich ein Fest der Community. Trotz aller Enge, der Reizüberflutung ist die Community auf der Spiel’19 wie jedes Jahr familiär, friedvoll und divers. Insofern gelingt der Spiel’19 etwas, was in unserer gewohnten Welt heute kaum möglich erscheint. Das ist magisch, das ist ein wirklicher Zauberkreis und ich weiß bereits beim Verlassen der Messe, dass ich ihn nächstes Jahr wieder betreten werde.