Tausendmal berührt und immer noch begeistert: Das Junge Theater präsentiert eine Musikshow über deutschen Rock und Pop.
Von Freya Morisse
Das Publikum tobt. Auf der Bühne des Jungen Theaters wird eine Geschichte des deutschen Rock und Pop besungen. Die Musikshow Tausendmal berührt entführt das Publikum bis in die 70er-Jahre – hin zu individuellen und kollektiven Erinnerungen.
»Viel zu lange rumgesessen,
überm Boden dampft bereits das Licht.
Jetzt muß endlich was passieren,
weil sonst irgendwas in mir zerbricht.«
Der lichtdurchflutete Vorhang fällt. Das Bühnenbild wirkt wie ein Hobbykeller, in dem ein paar Männer jenseits der 40 sonntags mit ihrer Band den ganz großen Gig proben. Tatsächlich steht sie dort, die Band, hinten an der Wand, vier Männer, an der Gitarre (Fred Kerkmann), am Keyboard (Steffen Ramswig), am Schlagzeug (Christian Villmann) und am Bass (Sebastian Strzys / Sebastian Albert). Wir hören: einen melancholischen Einstieg, komponiert von Konstantin Wecker (gesungen von Jan Reinartz). Vorne auf der Bühne warten ein Kühlschrank und ein Ledersofa, in dem die Hobbykellerfreunde bierverträumt versinken könnten – würde sich dieser Keller nicht mit jedem Lied ein bisschen verwandeln. Eher stellt er die Kulisse, vor der das Publikum verschiedenste nostalgische Erinnerungsräume durchlaufen kann.
Der Hobbykeller wandelt sich zur schummrigen Kneipe, es fehlt nur noch eine von diesen Halogen-Diskokugeln, die bunte Punkte an die Wände werfen. Eine Darstellerin (Franziska Lather) springt in Lederleggings auf den Tisch und lässt zu Ulla Meinecke sehr lange ihren Hintern kreisen. Als jemand den Kühlschrank öffnet, kommt eine Frau (Linda Elsner) in Hochzeitskleid und mit Stoffeisbär im Arm heraus. Wir sehen: eine sehr subtile Andeutung des folgenden Liedes Eisbär von Grauzone aus dem Jahr 1981. Zwischendurch macht sich auch die jugendliche Rebellion bemerkbar, mit den Ärzten und den Toten Hosen, mit Absperrband und Polizei und Plakaten, die rufen: »Lass deine Stimme hören«, »Genug ist nicht genug« und »Gib mir mehr«. Oft springen alle Darsteller_innen ganz unironisch über die Bühne und beschwören dabei große Gefühle. Aber viel schöner ist es, wenn sie die Szenen ironisch brechen: Wenn sich zwei Cowboys (Peter Christoph Scholz und Karsten Zinser) mit whiskeyversoffenen Stimmen auf ihre Plüschponys schwingen und Brokeback Mountain spielen, während die Band Artig von Feeling B anstimmt. Oder wenn Sidos Mein Block nahtlos in Schuld war nur der Bossanova übergeht.
Von Rock’n’Roll über Rap und Liedermacher_innen hangelt sich die von Tobias Sosinka inszenierte Show unter der musikalischen Leitung von Fred Kerkmann durch die Jahrzehnte, von den »Urvätern« Udo Lindenberg und Marius Müller-Westernhagen bis hin zum Rapper Casper. Chronologisch geordnet sind die Stücke nicht. Manchmal gibt es eine atmosphärische, musikalische oder thematische Verbindung – und manchmal liegt der Reiz gerade darin, dass diese Verbindung fehlt, dass es einen Bruch gibt und ein neues Kapitel beginnt. Die Musikauswahl deckt ein erstaunlich breites Spektrum ab. Eine Geschichte des deutschen Rock und Pop könnte sehr viel schlimmer klingen. Der Party-Hitmix von Pur, Weinst du von Echt und Ein Bett im Kornfeld von Jürgen Drews bleiben uns erspart. Stattdessen beschwört die musikalische Zeitreise scheinbar noch einmal das Gefühl vom Aufbruch in eine große Zukunft herauf. Reihenweise graue Köpfe und Halbglatzen wippen zu Nena:
»Irgendwie fängt irgendwann
irgendwo die Zukunft an,
ich warte nicht mehr lang.
Liebe wird aus Mut gemacht,
denk nicht lange nach,
wir fahr’n auf Feuerrädern
Richtung Zukunft durch die Nacht.«
Texte voller diffuser Versprechen. Ein kleinster gemeinsamer Nenner. Hier offenbart sich die identitätsstiftende Funktion eines solchen Abends. Die kollektive Erfahrung einer musikalischen Erinnerungsreise schließt das Publikum zu einer Gemeinschaft zusammen und schafft ein Zugehörigkeitsgefühl. Wir versichern uns der eigenen Biografie wie beim Blättern durch ein Fotoalbum. Spielen unsere musikalische Sozialisation noch einmal durch. Und dieses gemeinsame Zurückblicken formuliert sich an diesem Abend nirgendwo treffender als in Wolf Maahns Lied Irgendwo in Deutschland:
»Und plötzlich gerätst Du in Panik wie die Zeit verfliegt
Du stehst da als hätt’st Du die Bahn verpasst
Und siehst wie nichts geschieht
Und Du stehst da mit dem Rücken zur Wand
Hast die Fahrkarte noch in der Hand
Irgendwo in Deutschland.«
Langer, lauter Applaus, zwei Zugaben und Standing Ovations lassen bloß erahnen, was dieser Abend ausgelöst haben mag.