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Jede Menge Krawall

Für familiäre Zerwürfnisse hat das DT ein Händchen. In der aktuellen Spielzeit besonders sehenswert ist, wie Florian Eppinger in der Rolle des Eddie, der Hauptfigur in Arthur Millers Ein Blick von der Brücke, das Glück seiner Tochter zerstört, weil er den Konflikt zwischen seinem Männlichkeitsideal und der Sanftmut des Mannes, in den sie sich verliebt hat, nicht erträgt. Ein Augenschmaus ist ferner, wie Angelika Fornell, Benjamin Kempf, Marie Seiser und Paul Wenning in Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? dem Suff frönend die brüchigen Fundamente ihrer Beziehungen zertrümmern. Mit Sophoklesʼ Antigone setzen nun der Chefdramaturg Matthias Heid und Regisseur Christian Friedel dem Zwist die Krone auf.

Von Stefan Walfort

Wer den Primärtext liest, gewinnt schnell den Eindruck, der Plot sei sehr überschaubar. Die Übersetzung von Simon Werle, auf der die Inszenierung basiert, umfasst nur gerade fünfzig Seiten. Was geschieht, lässt sich in wenigen Sätzen abhandeln: Nachdem Antigones Bruder Polyneikes im Krieg gegen seinen Bruder Eteokles der Heimat Theben in den Rücken gefallen ist, untersagt der König Kreon bei Strafe jedes ehrende Begräbnis. Vögeln soll er als Speise dienen. Weil Antigone ihn dennoch zu bestatten wagt, lässt Kreon sie in eine Grabkammer einmauern. Die meisten Versuche, ihn umzustimmen, erweisen sich als zwecklos. Die Katastrophe ist früh absehbar. Als der Chorführer Kreon schließlich klarmacht, wie sehr er mit seinem Starrsinn die Götter erzürnt, kommt jede Hilfe zu spät: Antigone baumelt am Strick. Kreons Sohn Haimon ‒ eigentlich hatte er Antigone zu heiraten geplant ‒ sticht sich vor den Augen des Vaters sein Schwert in die Hüfte. Kreons Gattin Eurydike begeht infolge ihres Schmerzes ebenfalls Suizid.

Christian Friedel, selbst Schauspieler, zu sehen im Film Elser als gleichnamiger Hitler-Attentäter und in dem Oscar-Anwärter Das weiße Band in wiederum einer Hauptrolle, entstaubt die fast 2500 Jahre alte Tragödie. Virtuosität ist sein Motto, und so verleiht er den Ereignissen mit zügigen Kostümwechseln, hämmernden Beats, verstörenden Videosequenzen und jeder Menge Krawall ein Vielfaches an Action.

Zuckerbrot und Peitsche

Statt auf eine Guckkastenbühne zu blicken, tummelt sich das Publikum vor der Außenfassade eines Mauerwerks, auf die Videos projiziert werden. Jubel bricht aus. Marschmusik ertönt. Eurydike, Kreon und ihre Kinder halten Einzug, schütteln Hände, schließen ZuschauerInnen in die Arme, verströmen Harmonie. Eurydike steigt auf ein Podest. Sie trägt einen blauen Hosenanzug, dazu Seidenhandschuhe und Ohrringe in Rosa. Von der Decke rieselt es Konfetti. Kurzerhand hat Friedel Eurydike zur Herrscherin gemacht und Kreon zu ihrem Anhängsel. Kurzerhand wird aus dem Publikum eine Volksversammlung ‒ dazu verdammt sich anzuhören, wie das Staatsoberhaupt klassisches Othering betreibt: Ein inklusives »Wir« sucht es gegen ein exklusives »die anderen« auszuspielen, die Polis gegen Polyneikes und alle, die sich mit ihm solidarisieren und damit ihr Lebensrecht verwirken. Allein dem Schicksal sei es zu danken, dass der Krieg vorüber sei. Um auch künftig in Frieden zu leben, gelte es, alles Handeln am Willen der Götter auszurichten. Strafe für Defätisten gehöre nun einmal dazu. Die Rhetorik ist uralt, und doch hat sie bisher noch jede Epoche überdauert, so abgegriffen manche ihrer Bilder inzwischen auch anmuten: Die Allegorie vom Staat als Schiff, als dessen Kapitänin Eurydike sich begreife, hallt wider, beispielsweise wenn IsolationistInnen behaupten, das Boot sei voll. Stets dient sie als Drohung vor jenen, die es wagen, es auf dem Kurs gen sicheren Hafen in Turbulenzen zu bringen. Wen letztlich der Zorn der aufgepeitschten Massen trifft, ist austauschbar.

(V.l.n.r.) Dorothée Neff, Christina Jung, Florian Eppinger, Florian Donath, Gaby Dey

Doch was wäre Eurydike für eine Herrscherin, wenn sie es neben dem Knallen mit der Peitsche nicht auch verstünde, Zuckerbrot zu verteilen? Ihre Kinder huschen herbei. Mit Silbertabletts bahnen sie sich den Weg durch die Menge und bieten Häppchen an. Dazu teilt Kreon Getränke aus. Die bislang unter Plastikplanen verdeckte Tribüne wird enthüllt. Nachdem das Publikum Platz genommen hat, werden Redeauszüge Eurydikes, unterlegt mit wummerndem Dubstep, via Video wiederholt. Erst jetzt beginnt der Prolog, in dem Ismene sich dagegen sträubt, ihrer Schwester Antigone bei der Bestattung ihres Bruders zu assistieren: »Denen, die die Macht besitzen, beug ich mich.« Weil sich Kreon auf die Seite Antigones schlägt, hängt auch in Eurydikes Heim der Haussegen schief. Einem Wächter bürdet die Herrscherin eine Mitschuld auf. Sein einziges Vergehen war: Er hatte die heimliche Trauerfeier beobachtet. Falls er nicht bald die Schuldigen präsentiere, blühe ihm die Todesstrafe. Er gerät in Panik. Er bibbert. Es drängt ihn, das Gesehene möglichst anschaulich zu vermitteln. Dabei saut er mit Wein die Tafel, an der gerade die Familie Eurydikes speist, ein. Schweiß strömt ihm von der Stirn. Als er endlich die an den Händen gefesselte Antigone vorführt, ist er nicht nur erleichtert; offen trägt er seine Schadenfreude zur Schau.

Das Stück

Regie: Christian Friedel
Dramaturgie: Matthias Heid
Bühne: Christian Friedel
Kostüme: Ellen Hofmann
Nächste Aufführungen:
02. März; 17. März; 28. März 2017

 

DT

logoDas Deutsche Theater in Göttingen zeigt als größtes Theater der Stadt ein umfangreiches Repertoire auf drei Bühnen. Bereits seit den 1950er Jahren errang das DT unter Leitung des Theaterregisseurs Heinz Hilpert den Ruf einer hervorragenden Bühne. Seit der Spielzeit 2014/15 ist der Schweizer Erich Sidler die künstlerische Leitung des Hauses.
 
 

Schon früh zeichnet sich ab, dass Antigone nicht als bemitleidenswertes Opfer aufzutrumpfen vermag.
Von Christina Jung vom ersten Auftritt an als verbiestert gespielt, steht sie den anderen Figuren an Impertinenz in nichts nach. Alle Fronten sind verhärtet. Nah an der Textvorlage wird gedroht und gekeift, gefleht und geschubst. Verschnaufpausen gönnen sich die Involvierten nur ab und an, zum Beispiel wenn sich Eurydike hinter ihrem Laptop und einem Aktenstapel verschanzt und mit süffisantem Tonfall zu verstehen gibt, dass kein noch so emotionaler Appell sie anficht. Ihre Arroganz macht sprachlos, ihr Verschwörungswahn nicht minder. Jede Kritik erstickt sie durch den Vorwurf, ihr ganzes Umfeld habe für Geld seine Loyalität preisgegeben. Selbst in Kreons Emphase erblickt sie nur Eigennutz, und deshalb pfeife sie auf dessen Seherkünste einschließlich der vielen Unheils-Voraussagen. Einlenken? Kommt nicht in Frage.

Die Mischung aus Schreibtischtäterin und machthungriger Trulla mimt Gaby Dey fabelhaft. Auch die Nebenfiguren überzeugen. Als subtilste von allen entpuppt sich Haimon, dargestellt von Florian Donath. Die vor Gel triefenden Haare nach hinten gestriegelt, das weiße Hemd zugeknöpft bis unter das Kinn ‒ so schaut er aus wie Everybodyʼs Darling. Dem Vater gegenüber gibt er sich wortkarg. Seine wenigen Repliken sind reine Kriecherei:

Ich bin der deine, Vater; und den guten Lehren, die du mir recht vermittelst, folg ich gern. Denn keine Ehe ist mir wichtiger als du, der mich zu meinem Besten führt.

Auch die Suada seiner Mutter nimmt er lange unwidersprochen hin. Doch stille Wasser sind tief, und so fährt er plötzlich aus der Haut. Alles Erdenkbare ist ihm auf einmal zuzutrauen.

Steilvorlage für Gendertheorien

Ob Haimon sich ersticht, bleibt an diesem Abend offen, was aus Antigone und Kreon wird, ebenfalls. Ihre Qualen nimmt Friedel in Form einer Eurydike einschüchternden Traumeinlage vorweg. Auch hierzu schöpft er wieder großzügig aus dem plurimedialen Angebot dramatischer Mittel. Während alles in Nebel gehüllt ist, zappeln Antigone, Ismene, Kreon, Haimon, der Wächter und die Kinder mit neonfarben verschmierten Gesichtern umher. Mal lauschen die Letzteren Antigones Monolog ‒ einer Klage, während derer sie mit schriller Stimme und Geschlechtsverkehr andeutend bejammert, unvermählt in den Hades hinab zu müssen. Mal turnen sie über die Tische. Mal schnappen sie sich Stühle, benutzen sie als Gewehre. Salven sind zu hören. Belustigt kreischen die Plagegeister: »Es gibt Tote!« Dazu bewegen sich im Hintergrund auf dem Mauerwerk Aasgeier in Richtung eines Massengrabes. Der Wächter wälzt sich am Boden. Er knurrt die sich demonstrativ mit dem Rücken abwendende Eurydike an. Grinsend reibt er ihr den Tod ihrer Lieben unter die Nase. »Was ist zu tun? Sag es, und ich werde folgen« ‒ so besinnt sich die Gepeinigte, wie vom Wahnsinn getrieben im Kreis rennend. Ob ihre Reue zu spät einsetzt? Wir erfahren es nicht.

»Den Vorhang zu und alle Fragen offen«1 ‒ so könnte mit Brecht ein Fazit lauten. Ob Eurydike als Frau es gelingt, Versöhnung zu stiften, den »Krisenpunkt eines politischen Zerfallsprozesses«2, den Susanne Siebert in der sophokleischen Vorlage thematisiert sieht, noch einigermaßen unbeschadet zu überwinden? Wir erfahren es nicht. Ob unter ihrer Ägide der Frieden stabil bleiben wird? Wir erfahren es nicht. Bloß von ihrem Ehrgeiz, männlichen Herrschern in Sachen Rigorosität ebenbürtig zu handeln, erfahren wir. Verwundern dürften solche Ambitionen kaum. Nur sich an Geschlechterstereotypen klammernde Ewiggestrige glauben, die Welt werde eine friedlichere, wenn allerorten Frauen regieren. Indem die Göttinger Inszenierung trotzdem mit dieser Option kokettiert, liefert sie gendertheoretischen Diskussionen eine Steilvorlage. Mit ihr sowie mit einem Abend voller Kurzweil beweist das DT mal wieder, zu welchen Glanzleistungen es fähig ist.

  1. Brecht, Bertolt: Der gute Mensch von Sezuan. Frankfurt am Main 2003, S. 134.
  2. Siebert, Susanne: Literarische Übersetzungen als Beitrag zur Kritik politischer Ratio. Die Antigone des Sophokles als Exempel »vaterländischer Umkehr« um 1804. In: Blawid, Martin/Henzel, Katrin (Hg.): Poetische Welt(en). Leipzig 2011, S. 105.


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 Veröffentlicht am 1. März 2017
 Bilder von © Thomas Müller
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