Was bedeutet der Medienwandel für wissenschaftliche Editionen und was lässt sich dabei vom Printmedium lernen? Beleuchtet werden Vor- und Nachteile gedruckter und digitaler Editionen und das Ineinandergreifen wissenschaftlicher, technischer, politischer und ökonomischer Aspekte der Digitalisierung.
Von Julia Nantke
Das Schlagwort ›Digitalisierung‹ ist mittlerweile auch in den Geisteswissenschaften in aller Munde. Zahlreiche Tagungen, Beiträge und Sammelbände sowie die steigende Zahl von Lehrstühlen für Digital Humanities zeugen von der gesteigerten Relevanz des Themas. Dem Bereich der Edition – also der wissenschaftlichen Aufbereitung eines überlieferten Textes oder Textkorpus – kommt hierbei eine gewisse Vorreiterrolle zu, denn Editionen entstehen bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten (auch) als digitale Interfaces im Netz oder als Hybridprodukte mit digitalen und analogen Komponenten. Der folgende Beitrag handelt von den Chancen, beleuchtet aber vor allem auch die vielfältigen neuen Herausforderungen und die Verlagerung von Problemfeldern, die diese Entwicklung mit sich bringt. Ein besonderer Blick gilt dabei der wegweisenden Funktion, die dem Buch als Brücke in eine digitale Editionslandschaft zukommen kann und sollte.
Einige zentrale Aspekte verdeutlichen auf verschiedenen Ebenen die erweiterten Möglichkeiten der digitalen Edition und verweisen dabei gleichzeitig auf das Spektrum an Einflussfaktoren, das bei der Abwägung von Chancen und Herausforderungen zu berücksichtigen ist:
Aus wissenschaftlicher Sicht besteht ein grundlegender Vorteil darin, dass Korpora, die sich auf die eine oder andere Weise gegen die Strukturen des Ordnungsmediums Buch sträuben, aufgrund der netzartigen Ordnung und räumlichen Unbegrenztheit des Internets adäquater aufbereitet werden können. Komplexe Überlieferungen ohne identifizierbares ›Original‹ – wie so häufig bei antiken und mittelalterlichen Texten der Fall –, unvollendete Werke ohne feste Form, multimediale und konstitutiv nicht-lineare Gegenstände profitieren in unterschiedlicher Weise von den Möglichkeiten einer egalitäreren, dynamischen und medienübergreifenden Präsentation des Materialbestands. Objekte wie Luhmanns berühmter Zettelkasten, dessen netzartige Anlage das zentrale Merkmal des Korpus, seiner Entstehungs- und Benutzungsmodalitäten darstellt, werden durch die Digitalisierung eigentlich überhaupt erst edierbar. Ihre Präsentation im Rahmen eines Buches kann hiervon immer nur eine Schwundstufe bieten.1
Editionen, die einem »digitalen Paradigma« folgen2, tragen in den benannten Fällen zu einer Erweiterung der rezipientenseitigen Perspektive auf die edierten Gegenstände bei und ermöglichen eine ganzheitlichere Benutzung derselben. Nicht nur das Bewusstsein der LeserInnen für die Komplexität und Dynamik des Textbestands wird auf diese Weise geschärft. Umfangreiche Überlieferungssituationen werden wissenschaftlich auch viel intuitiver nutzbar gemacht, wenn – wie bspw. bei der aktuell in Bern erarbeiteten digitalen Parzival-Edition – eine parallele Darstellung der einzelnen Fassungen sowie verschiedene Auswahl- und Kombinationsmöglichkeiten von Fassungen durch die RezipientInnen vorgesehen sind. Gleichzeitig kann durch die potentiell unbegrenzte Erweiter- und Aktualisierbarkeit der Editionen im Netz der gerade für langfristige Editionsvorhaben immer problematischen Alterung der Ausgaben entgegengewirkt werden: Durch das Einbinden immer wieder neuer Forschungsergebnisse wird die Edition idealerweise zum Kommunikationsmedium zwischen Werk und Forschung.
Während die bisher benannten Vorteile EditorInnen, Gegenständen und RezipientInnen gleichermaßen zugutekommen, darf ein weiterer Aspekt nicht unerwähnt bleiben, der maßgeblich die Seite der Benutzung betrifft: Editionen, die im Netz verfügbar sind, ermöglichen einen schnellen, ortsunabhängigen und diversifizierten Zugriff. Dieser ist zudem häufig für die RezipientInnen kostenfrei, weil die Editionen im Open Access erscheinen. Digitale Editionen tragen also zu einem barrierefreien Zugang für die forschenden WissenschaftlerInnen bei und entlasten potentiell das Budget der Forschungsinstitutionen.
Soweit also zunächst einmal die positive Seite der schönen neuen Welt digitaler Editionen. Da aber bekanntlich jede Medaille zwei Seiten hat, sollen nun entscheidende Herausforderungen beschrieben sowie die zentrale Funktion herausgestellt werden, die dem Buch als Brücke bei deren Bewältigung zukommt.
Aus wissenschaftlicher Sicht erwächst aus eben jener gerade beschriebenen Diversifizierung der Gestaltungsmöglichkeiten bei digitalen Editionen auch eine der größten Herausforderungen: Die Erweiterung des präsentierten Textkorpus sowie die prinzipiell unbegrenzten Möglichkeiten der Kontextualisierung machen es umso dringlicher nötig, die entsprechend vielfältigen Informationen benutzerfreundlich zu gliedern und sinnvolle Kriterien für die Kontextualisierung des Edierten zu entwickeln. Denn Edition bedeutet nicht nur das Bereitstellen, sondern immer auch die Aufbereitung einer Überlieferung unter bestimmten wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Sie soll Orientierung bieten und weitergehende Forschung ermöglichen, indem sie der Wissenschaft ein gesichertes gemeinsames Bezugsfeld bereitstellt, über das sich kommunizieren lässt. Als Medium der Ordnung und Vermittlung von Wissen verweist das Buch in diesem Zusammenhang darauf, jenseits der erweiterten Möglichkeiten verstärkt in die Entwicklung und Gestaltung neuer Begrenzungen und übergeordneter Strukturen für digitale Editionen zu investieren.3 Denn diese schränken eben nicht nur ein, sondern ermöglichen auch überhaupt erst eine Systematisierung der Inhalte wie der rezipientenseitigen Lektüren.
Diese wissenschaftlichen Herausforderungen korrelieren mit gesteigerten technischen Anforderungen bei der Erstellung digitaler Editionen: Ein stetig wachsender Pool an digitalen Werkzeugen und die permanente Dynamik von Programmen und Inhalten im Internet erfordern erweitertes technisches Know-how auf Seiten der EditorInnen, eine intensive interdisziplinäre Kommunikation zwischen EditorInnen und TechnikerInnen und eine langfristige Pflege der Editionen. Das Problem der schnellen Alterung von Überlieferungsbefunden und Kommentaren in der Print-Ausgabe verlagert sich im Rahmen der digitalen Edition also tendenziell auf die technische Seite, und das mit weitaus dramatischeren Folgen für die benannte Kernkompetenz der Edition. Die weitere Ausarbeitung technischer Standards stellt daher eine zentrale aktuelle Aufgabe im Bereich digitaler Edition dar. Die Zuverlässigkeit des gedruckten Buchs ist hier der Maßstab, dem eine digitale Edition gerecht werden muss, um überhaupt den Anspruch auf einen wissenschaftlichen Mehrwert erheben zu können.
Das Problem der Nachhaltigkeit ist allerdings kein rein technisches, sondern birgt ebenfalls Herausforderungen ›politischer‹ bzw. ökonomischer Natur. Tatsache ist, dass digitale Editionen sich fast ausschließlich aus eingeworbenen Drittmitteln finanzieren. Das bedeutet zunächst, dass ein klar begrenztes Budget für die Entwicklung der Edition und die Pflege der technischen und inhaltlichen Daten zur Verfügung steht. Die institutionelle Einbindung in Universitäten, Archive und andere kulturelle Einrichtungen gewährleistet zwar eine grundlegende dauerhafte Verantwortlichkeit. Letztere geht allerdings ebenfalls mit kaum für die Zukunft prognostizierbaren Kosten v. a. für das Bereitstellen von Serverkapazitäten und Hosting einher. Sie ist zudem daran gebunden, dass hierfür auch dauerhaft qualifiziertes Personal zur Verfügung steht, was aber im Rahmen der Drittmittelförderung kaum möglich erscheint. Die stetige Aktualisierbarkeit digitaler Editionen stellt allerdings nur dann einen echten Mehrwert dar, wenn sie keine rein hypothetische bleibt.
Die derzeitigen Förderbedingungen für Editionen sehen weiterhin meist eine Bereitstellung der im Rahmen der Förderung generierten inhaltlichen und technischen Daten im Open Access vor, und dies – wie bereits angesprochen – aus guten Gründen. Open Access sorgt allerdings nicht automatisch dafür, dass weniger Kosten anfallen, sondern verlagert diese aktuell meist nur von Bibliotheken und LeserInnen auf die ProduzentInnen. Denn Open Access lässt sich häufig nur zu einem hohen Preis mit der Gewährleistung von Urheberrechten und der Positionierung der Edition im Programm eines Verlags vereinbaren. Letztere gilt aber v. a. in den Geisteswissenschaften noch immer als Garant für wissenschaftliche Standards, Sichtbarkeit und Prestige.4
Wer allerdings aktuell mit seinem Förderantrag für ein Editionsprojekt erfolgreich sein will, kommt kaum darum herum, dabei mindestens digitale Komponenten vorzusehen. Das lässt befürchten, dass zum Teil digitale Editionen geplant werden, wo eine analoge Präsentation dem Gegenstand viel angemessener wäre bzw. solche Gegenstände tendenziell weniger editorische Beachtung finden. Dies bedeutet also wiederum eine Problemverlagerung, wenn die netzartige Präsentationsform, von der einige Gegenstände mit Sicherheit profitieren, auch solchen Texten aufgezwungen wird, deren systematisch entfaltete Zusammenhänge und Bezüge dadurch eher verdeckt als erhellt werden.
Auf diesem vielfältigen, hier nur grob umrissenen Feld der Herausforderungen wissenschaftlicher, technischer und ökonomischer Natur kann das Buch einen zentralen Orientierungspunkt für die Entwicklung neuer Formate und Strukturen bilden. Das gilt sowohl in seiner Funktion als Wissensordnung, die digitale Projekte darauf verweist buchstäblich an Format zu gewinnen, als auch in seiner konkreten medialen Gestalt, die für Stabilität und Integrität sowie ein verlässliches Distributionsnetzwerk steht. Gleichzeitig zeugt gerade die im Rahmen des Medienwandels verstärkt in den Blick gerückte formierende Wirkung des Mediums Buch von der Determination der Inhalte durch ihre Ausgabemedien im Allgemeinen, also vom stets unhintergehbaren Zusammenhang von Gegenstand und Präsentationsform. Frei nach Marshall McLuhan: Das Medium formt die Botschaft.
Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf und ein bisschen Optimismus lässt sich eine Editionslandschaft konzipieren, die analoge und digitale Präsentationsformen parallel und jeweils an den Bedürfnissen des konkreten Gegenstands, des darzustellenden Sachverhalts und des angesprochenen Publikums orientiert einsetzt.5 Verschiedene digitale Editionen zeichnen hier bereits Möglichkeiten vor, indem sie Ausschnitte ihres gesamten Materials und/oder umfassende Kontextualisierungen zusätzlich als geschlossene Narrative im analogen Medium publizieren.6 Dieser Weg könnte dazu beitragen, die Stärken digitaler und analoger Editionen zu bündeln. Und vor allem bleibt für ProduzentInnen wie RezipientInnen, selbst wenn alle Server, Repositorien oder Lesegeräte einmal ausfallen, immer noch das Buch.