Das Salzkammergut in Österreich: Im Hintergrund liegt malerisch der Wolfgangsee, an dessen Ufer das Wirtshaus »Zum weißen Rößl« steht, komplettiert durch karierte Gardinen und blumenbemalte Fensterläden. Die Wirtin trägt Dirndl, der Kellner weißes Jackett. Das mag schlimmsten Kitsch befürchten lassen – den das Singspiel »Im weißen Rössl« im DT aber geschickt unterwandert.
Von Simon Sendler
Während das Publikum seine Plätze einnimmt, herrscht auf der Bühne noch emsiges Treiben. Es wird gefegt, aufgeräumt, das Orchester stimmt die Instrumente und spielt sich warm. Dann erst wird das Bühnenbild errichtet. Der Bühnenprospekt zeigt den Wolfgangsee zwischen Bergen unter strahlend blauem Himmel; die Schauspieler schieben das namensgebende Wirtshaus auf die Bühne, das aussieht wie ein zu groß geratenes Puppenhaus. Die Kellner des »Weißen Rössl« fertigen noch eine Gruppe Pauschaltouristen ab, nach deren Abreise die ersten wirklich wichtigen Gäste kommen: Das österreichische Wirtshaus ist das Ziel der Berliner Oberschicht, die sich einen Sommerurlaub in exotischer Umgebung gönnen möchte.
Dabei treffen Welten aufeinander. Der Fabrikant Giesecke (Ronny Thalmeyer) wettert in breitester Berliner Schnauze gegen jede Kleinigkeit, was der Zahlkellner Leopold (Roman Majewski) mit dem angemessenen Schmäh erwidert. Leopold hat nämlich ganz eigene Probleme: Er ist in die Wirtin Josepha Vogelhuber (Katharina Uhland) verliebt, die sich aber ihrerseits in den Berliner Anwalt Dr. Siedler (Benjamin Krüger) verguckt hat. Der wiederum verliert sein Herz an Ottilie (Dorothée Neff), Gieseckes Tochter, die zwar seine Gefühle erwidert – deren Vater aber den Plan fasst, sie mit Sigismund Sülzheimer (Moritz Schulze), dem Sohn eines konkurrierenden Industriellen, zu vermählen. Als Sigismund aber am Wolfgangsee ankommt, hat er sich schon in Klärchen (Christina Jung) verliebt, die Tochter des Prof. Dr. Hinzelmann (Gerd Zinck).
Berliner High Society und österreichisches Landvolk
Wer nun befürchtet, sich auf eine zweieinhalbstündige »Bergdoktor«-Revue mit Tanz und Gesang eingelassen zu haben, liegt zum Glück falsch. Viel mehr nutzt »Im weißen Rössl« die vielen aufeinandertreffenden Gegensätze der Handlung aus, um auf wunderbar unterhaltsame Art und Weise eine schöne heile Welt zu demontieren. Allein die Widersprüche in der Garderobe machen früh deutlich, dass am Wolfgangsee nicht viel Harmonie herrschen wird: Während die Österreicher in Trachten und Uniformen auftreten, präsentieren sich die Berliner ganz in der zum Teil äußerst schrillen Mode der 1920er Jahre.
Dazu passend verbindet das Stück verschiedenste Musikstile. Mal werden das Wirtshaus und das Salzkammergut unter der Begleitung von Walzer und Marschmusik besungen, immer in unerwartetem und nahtlosem Wechsel mit jazzigeren Stilen und Tanzmusik der 20er-Jahre. Diese rasanten Wendungen des musikalischen Arrangements liefern »Franz Josef Kaiser und das Salz-Kammerorchester« unter der Leitung von Michael Frei souverän und schaffen es, wie ein mindestens doppelt so großes Ensemble zu klingen, wenn es die Situation erfordert. Letztendlich bleibt auch die österreichische Nationalhymne nicht verschont, die natürlich zum Empfang des kurzfristig erscheinenden Kaisers Franz Joseph (Bernd Kaftan) von den Bediensteten und Gästen dargeboten werden muss. Ergänzt wird die Präsentation der Lieder durch eine wunderbare Choreographie (Valentí Rocamora i Torà), in der vor allem der Piccolo (Benedikt Kauff) glänzt, der auch an den komischen Stellen des Stücks besonders hervorsticht.
»Beim Walzer, da bin ich hemmungslos«
Aus der Dynamik dieses Potpourris nimmt die Inszenierung nicht nur ihre Energie und ihren Charme (lediglich in der zweiten Hälfte lässt zuweilen das Tempo ein wenig nach), sondern hier zeigt sich auch, warum es sich lohnen kann, auch aktuell noch ein Singspiel aus vergangenen Tagen aufzuführen. Aller (karikierten) Alpen- und Vergangenheitsromantik zum Trotz (oder grade deswegen?) werden aktuelle Diskurse aufgeworfen: Die Kommentare, die das Stück zu Themen wie Antisemitismus, Kapitalismus und das Tourismusgewerbe (»Das ist der Zauber der Saison/ Da trägt die Landschaft Zinsen«) bietet, haben durchaus ihre Berechtigung. Und auch darüber hinaus – wer kennt sie nicht, die Probleme zwischenmenschlicher Beziehungen, deren Operettenhaftigkeit das Stück spöttelnd aufzeigt?
All das ist darum so gut lesbar, weil die Inszenierung der ironischen Darstellung ihrer Figuren vollen Raum zur Entfaltung lässt. Wenn Dr. Siedler seine Angebetete Ottilie mit dem Lied »Mein Liebeslied muss ein Walzer sein« umgarnt, hängt die Absurdität des Gegensatzes zwischen der feurigen Leidenschaft, von der Siedler singt, und dem volkstümelnden Walzer fast greifbar im Raum. Oder einfach die Tatsache, dass in praktisch jeder Szene eine Heimatseligkeit beschworen wird, die praktisch sofort durch die Figuren untergraben wird, die nur selten die erwartete Gemütlichkeit an den Tag legen.
So sehr diese Gegensätze und das Ironisieren des Geschehens im Stück selber angelegt sein mögen, ist ihre Verarbeitung auf der Bühne nicht selbstverständlich: Die Inszenierungen der Nachkriegszeit schliffen das Stück musikalisch wie textlich glatt und präsentierten so die Aufführung aller satirischen Elemente beraubt als genau die biedere Heimatseligkeit, die das Singspiel eigentlich parodiert. Das traf genau den Geschmack der Bundesrepublik in Zeiten des Wirtschaftswunders, ihre Sehnsucht nach heiler Welt, sorgte aber auch dafür, dass »Im weißen Rössl« jahrelang als unerträglich flacher Schmalzpfuhl verschrien wurde. Erst spät entstanden neue Bearbeitungen, die sich auf die musikalische Vielfalt und den Biss des Originals zurückbesannen, wie die der »Geschwister Pfister« aus dem Jahr 1994. Diese bot auch die Grundlage für die Inszenierung im Deutschen Theater, erfolgreich umgesetzt durch Regisseur Tobias Bonn.
Die Eröffnung der aktuellen Spielzeit des Göttinger DT bekam mit »Im weißen Rössl« ein gelungenes Auftaktstück. Es bietet hervorragende Unterhaltung auf höchstem musikalischen, schauspielerischen und tänzerischen Niveau. Dazu gibt es dem Publikum auch einige Denkanstöße: Können fiktive Träumereien das Glück der Menschen beeinflussen? Und lohnt es sich, einer Heimatidylle hinterher zu jagen, die eigentlich nie existiert hat und nie existiert haben konnte – auch wenn es sich dabei nur um ein Wirtshaus an einem malerischen Gebirgssee handelt? Es ist schön, wenn man beizeiten daran erinnert wird, dass es die »gute alte Zeit«, so verklärt wie wir sie uns vorstellen, wahrscheinlich nie gegeben hat – ebenso wenig die Existenz einer homogenen Heimat.