Zur sonntäglichen Sitzkissenromantik: Beim letzten Göttinger Poetry Slam waren nicht nur das anfängliche Ganzkörper-Schnick-Schnack-Schnuck und das schweizer Finale, sondern auch die Performances von politischem Terror, der Sucht nach Leben und postmodernem Maskierungswahn sehenswert.
Von Laura Li Stahr
Die Schlange vor der Abendkasse des Jungen Theaters war am 30. März nicht ganz so lang wie sonst, doch am Ende waren erwartungsgemäß alle Plätze im Theatersaal besetzt. Nach der Begrüßung durch die Gastgeber Felix und Christopher sollte es an die Vergabe der beiden Publikumsjobs und die Platzierung der Dichter_innen gehen. Die geladenen Gäste waren schnell auf der Liste verteilt, doch bei der Ernennung des Zeitnehmers gab es einen Zwischenfall. Das Stoppen der sieben Minuten eines jeden Kandidaten, das mit einem Bier belohnt wird, war diesmal so heiß begehrt, dass nach einem kurzen Gemurmel und »er macht es für billiger«-Zwischenrufen der Gewinn des Getränks unter zwei Zuschauern mit Ganzkörper-Schnick-Schnack-Schnuck erspielt wurde.
»Das bleibt aber unter uns«Nach diesem Lacher direkt zu Anfang wurde der Featured Poet Micha Ebeling aus Berlin auf der Bühne begrüßt. Zur Einstimmung in den Wettbewerb erzählte er von seinem Klassentreffen, bei dem er von seinen vermeintlich abstrusen Berufen erzählte. In Mauern der Liebe oder Free Hugs ging es dann um eine Einladung zu einer Vortragsreihe für Jugendliche aus einer christlichen Gemeinde. Diese thematisierte Hassprediger und was man von ihnen lernen könne. Michas Texte mögen polarisieren – da teilweise ein recht makaberer Humor und Sarkasmus hervorsticht – bei diesem Publikum kam er jedoch gut an.
Als erster Kandidat an diesem Abend beschrieb Sim aus Köln in Wo der Hass Krieg gegen die Unschuld führt das Blutvergießen in der Türkei im letzten Jahr. Zwar könne man Träume nicht verbrennen und am Ende seien alle Menschen Vater, Schwester, Bruder, egal wann und wo, aber »wer nicht wächst, wie man soll, den frisst die Maschine«. Sim zog alle stimmlichen Register, von anklagend bis weinend, stellenweise hielt er inne, das Publikum war ergriffen. Ein Text über so konkrete politische Aktionen und ihre Folgen ist bei einem Slam nicht häufig vorhanden, er fand jedoch große Zustimmung.
Der zweite Kandidat, der Schweizer Renato, war mit den Metamorphosen des Ovid nicht zufrieden und entschied, sie neu zu verfassen. In Pygmalion reloaded alias Mimose oder Mauerblümchen wurde, getreu der eigentlichen Geschichte, eine Elfenbeinstatue zum Leben erweckt, Pygmalion »schmückte mit Vokabeln ihren Körper« – aber am Ende verschwand Jupiter trotzdem mit ihr. In Ilona, die Geschichte einer Sucht beschrieb Lovis, der erste Kandidat aus der offenen Liste, die Liebe als stärkste Droge der Welt. Auf Erstkontakt und Vollrausch folgten Therapie und Rückfälle. Zuletzt wurde klar: »Abstinenz ist keine Lösung«.
Mit »Hier spiel’ ich Theater, weil Ich sein anstrengend ist«, flüsternden Flüssen und kichernden Bächen beschrieb Lena aus Marburg im letzten Beitrag vor der Pause ihr Heimwehland. Im starken Kontrast dazu stand die hiesige Welt, in der miteinander Auskommen schwierig sei. Angelehnt ist das Gedicht an Hermann Hesses An die Schönheit.
Almdudler oder ArzthelferinNach der Pause zeigte Micha Ebling, wie unlesbare Unterschriften in Gästebüchern zu ungeahnten Sprachkreationen anregen können. Dies wurde deutlich, als nach »Micha, manchmal nerven deine sexuellen Phantasien, gez. A.« Namensmöglichkeiten von Armleuchterkönig über Almdudler, bis hin zu Actimel-Schnüfflerin und Arschengel durchgegangen wurden.
Die nächste Kandidatin aus Dortmund suchte nach Gedanken, die wir ausnahmsweise gerne denken. In ihrem Text Schaukeln war Luise zunächst das Männlein im Walde, danach eine lebenshungrige Frau mit zu dünnen Kleidern und am Ende »das Mädchen auf der Schaukel, süchtig nach Wind im Haar«. Mit »Ich werde das Beste daraus machen, denn ich habe ja keinen Eintritt gezahlt« begann ein siebenminütiger Einblick in das Leben der schweizer Slammerin Hazel: Eine zwischen Jägermeisterkotzpfützen zufällig stattfindende nächtliche Begegnung mit dem Exfreund, der einst wegen seines Knubbels am Ellenbogen anziehend wirkte, brachte Hazel zum Nachdenken über die Möglichkeiten einer unkomplizierten Trennung. »Während das männliche Katzenjunge im Kopf zum Kater herangewachsen war« schwirrte ihr die Frage durch den Kopf: »Wieso musste es immer so beschwerlich und kräftezehrend sein, wieso endete eine Liebesgeschichte nie so: und mit einem feuchtwarmen postkoitalen Händedruck verabschiedeten sie sich voneinander.«
Der Poetry Slam in Göttingen findet im Jungen Theater statt. Der offene DichterInnenwettstreit arbeitet mit einem weiten Literaturbegriff: Lyrik, Prosa, Rap, Limmericks, Kurzgeschichten, Dialoge, Wahnsinn oder was auch immer sonst auf die Bühne kommt, Hauptsache die Texte sind selbstgeschrieben, passen in sieben Minuten und werden ohne Hilfsmittel dargeboten. Durch den Abend führen Felix Römer und Christopher Krauss. Wer selbst einmal auftreten will: mind. fünf Plätze werden per Los an DichterInnen aus der offenen Liste vergeben. Einfach abends kommen, Namen auf einen Zettel am Eingang schreiben und schon ist man dabei. Der Göttinger Poetry Slam ist Kooperationspartner von LitLog. Der nächste Göttinger Poetry Slam findet am 27. April 2014 statt.
Das Duo Die gestörten Möchtegern-Twins schloss die erste Wettbewerbsrunde und beleuchtete mit seinem Text Terroristen und ihr Verhalten in Extremsituationen. Passagen wie »Ich bin kein Kriechtier, ich entscheide über mich selbst« bildeten Ausschnitte aus dem Leben der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin. Die Zwei-Frau-Performance war eine Gesprächsnachbildung mit ihrem Vater, bei der am Ende die Aussage stand, dass sie zwar tot, aber wenigstens wüsste, wofür sie gestorben sei. Die beiden trugen ihren Text sehr energisch vor und fügten so gekonnt wie präzise kleine Gesten zur Untermalung des Gesagten mit ein.
Vollster Muskeleinsatz beim schweizer FinaleBei der Frage »soll ich sie tragen?« dachte man zunächst irrtümlich, die Moderatoren würden nun die beiden Buchpreise präsentieren. Als Felix dann jedoch mit dem ersten Finalisten, Renato, auf dem Arm wieder durch den Vorhang trat, war der Applaus groß. Die zweite Finalistin, Hazel, wurde daraufhin huckepack auf die Bühne gebracht. Das schweizer Finale konnte beginnen. Nachdem ein Verbot für Taschenmesser und Fonduetöpfe ausgesprochen worden war – Letztere schlügen schließlich alles – gewann Renato das planmäßige Ganzkörper-Schnick-Schnack-Schnuck und startete die Finalrunde.
Sein Kind ohne Cape würdigte jene Alltagshelden, denen es gelingt, ihren angestauten Frust in Gelassenheit zu verwandeln – dies sei allerdings meist eine, die maskenhaft ins Gesicht gemeißelt wird. Entsprechend nachdenklich schloss sein Text: »Dass tief in deiner Seele auch heute noch ein Veilchen ist, ändert nichts an der Tatsache, dass sich die Welt unaufhaltsam weiter dreht.«
Hazel widmete den Titel ihres Textes ihrem Patenkind, welches mit einem Jahr noch so groß wie ein Brot sei und genauso viel könne, ergo nicht sprechen, aber dafür zuhören. In Bevor man gezeugt wird ist das Leben noch in Ordnung fragte sie sich, was aus all denjenigen Kindern geworden wäre, welche die Latexhaut des Kondoms aufgehalten hat. Die zehn Hübschesten würden mit dem Papst auf Missions-Welttournee gehen, während die zehn Hässlichsten für Werbezwecke der Verhütungsmittelindustrie zum Einsatz kämen.
Huckepack mit ApplausDer Applaus für diesen Text verhalf Hazel zum Sieg. Die offene Liste haben sowohl Lovis als auch Marek gewonnen und somit erhielten sie den Buchpreis gemeinsam. Den Endapplaus nahmen alle Künstler_innen des Abends auf der Bühne entgegen. Zuvor wurde jedoch der Spieß umgedreht und Felix von Hazel und Renato auf die Bühne getragen.
Der Poetry Slam ist auch an diesem Sonntag stimmungsreich und dieser Abend eine gelungene Mischung aus schwermütigen und fröhlichen Textvorträgen gewesen. Die ernsten Gedichte von Lena und Marek gingen aufgrund ihrer Länge zwar ein wenig unter, sie rundeten die thematische und atmosphärische Vielfalt des Abends allerdings mit ihrem vergleichsweise tiefgehenden Inhalt ab. Es sind gerade die ruhigen Texte, von denen man nicht alles, sondern nur die eindringlichsten Fetzen behält, die einen Denkprozess anstoßen und die Selbstbefragung des Zuhörers provozieren: plötzlich vermischen sich Erinnerungen mit der Gegenwart; Vergangenes rollt Präsentes neu auf, eine Art innere Reise beginnt. Auch das vermag die sogenannte Kleinkunst zu bewirken.
Der Text über das Heimwehland wie auch das Mädchen auf der Schaukel haben etwas bewegt: In der Stille des Publikums hätte man die sprichwörtliche Stecknadel zu Boden fallen hören können. Bei manchen drückte die Verschwiegenheit vielleicht nur bloßes Unverständnis aus. Auf viele andere wirkten jedoch genau die Texte, deren Inhalte sich nicht sofort erfassen ließen, wie kleine Kunstwerke, die ihr Geheimnis erst auf den zweiten Blick preisgeben. Denn sobald man auf die Suche gehen muss nach den kleinen Wörtern dazwischen – nicht ganz gesprochen, mehr gehaucht – wird eine Kette von Assoziationen freigesetzt, ein gedanklicher Weg, der an diesem Abend für mich das Ziel der Wort- und Vortragskunst war.
Der nächste Slam im Jungen Theater findet am 27. April 2014 statt und genau eine Woche später, am 4. Mai, wird Das Lumpenpack im Nörgelbuff auftreten. Das Singer-Songwriter Duo hatte beim letzten Poetry Slam als Featured Artist das Publikum mitgerissen, woraufhin am gleichen Abend ein weiterer Auftritt in Göttingen festgelegt wurde.