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Literaturfestival
Leipzig nicht? Dann Hamburg!

Er war im Frühjahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, im Herbst erhielt er in Hamburg den Klaus-Michael Kühne-Preis für den besten Debütroman des Jahres: Per Leo wurde am 21. September 2014 für seinen deutschen Familienroman Flut und Boden ausgezeichnet. Zum fünften Mal kürte der mit 10.000 Euro dotierte Preis im Rahmen des Harbour Front Festivals einen Sieger unter acht NachwuchsautorInnen, die an vier abwechslungsreichen Lesungsabenden ihre Texte dem Publikum und der Jury, bestehend aus aus Journalisten vom NDR, Hamburger Abendblatt, Spiegel, Stern und ZEIT Campus, vorstellten.

Von Astrid Schwaner

Zwischen den rauen Backsteinmauern des Hamburger Nochtspeichers warten zwei junge Autoren in rötlichem Dämmerlicht. Podiumsgäste und Publikum versinken in schwarzen Ledersesseln, während der Moderator des jeweiligen Abends beide Debütanten bemüht unparteiisch vorstellt und ihnen exakt die gleiche Lesezeit zumisst. Das gleiche Spiel viermal. Es soll fair zugehen bei diesem Hamburger Lesewettbewerb.

Die Zuhörer bei dieser vierteiligen Lesereihe sind wesentlich jünger als der Durchschnittsbesucher des Festivals. Dennoch verblüfft es, dass dieses attraktive, dunkel-kuschelige Veranstaltungsformat mit je zwei allerneusten Gestalten des literarischen Parketts nicht noch besser besucht ist, zumal es mit dem im Vergleich zu den anderen Festival-Highlights relativ günstigen Eintrittspreis von 10 Euro lockt.

Acht Kandidaten im Nochtspeicher

Am ersten Abend erforscht Per Leo in Flut und Boden (Klett-Cotta) seine eigene Familiengeschichte um zwei gegensätzliche Brüder – einer Nazi, einer Feingeist. Martin Kordić erzählt in Wie ich mir das Glück vorstelle (Hanser) aus der Kinderperspektive von der Schicksalsgemeinschaft zweier versehrter Jungen im Jugoslawienkrieg.

Harbour Front

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Das Harbour Front Literaturfestival wurde 2008 ins Leben gerufen und richtet thematisch gebündelte Lesungen in den Hamburger Hafenvierteln aus. Bis 2012 konnte das Festival über 78.000 Besucher an 48 Lesungsorte im Hafen locken. Durch die Förderung der Klaus-Michael Kühne-Stiftung und die Kulturbehörde Hamburg ist das Harbour Front Festival mittlerweile zum größten Literaturfestival Norddeutschlands aufgestiegen. Das HFF 2014 findet vom 10. September bis 7. Oktober statt.
 
 
Nicht weniger ernst geht es beim zweiten Debütantensalon zu: Horst Sczerbas Roman Der Sturm in meinem Kopf (Eichborn) stürzt die Zuhörer in die schwindelerregende Lebensbeichte eines Mannes, den seine Schuld am Unfalltod von Frau und Tochter um den Verstand bringt. In Der Innerschweizer (Bilgerverlag) von Urs Zürcher wird zunächst geliebt und gefeiert. Doch das wilde Studenten-Leben im Basel der 1980er Jahre gerät aus den Fugen, als die Protagonisten bei einem Bombenanschlag einen Diplomaten töten.

Der Bringer und seine Gang

Im dritten Debütantensalon sind endlich zwei weibliche Autorinnen zu Gast: Verena Güntners Rollenprosa Es bringen (Kiepenheuer & Witsch) entwirft drastisch und humorvoll das Selbstporträt eines Heranwachsenden zwischen Fickwetten und Pinkelritualen, mit dem Güntner schon in Klagenfurt Erfolg hatte. Madeleine Prahs verbindet in ihrem Episodenroman Nachbarn (dtv) einfühlsam die Lebensgeschichten von sechs ost- und westdeutschen Figuren in und nach der Wendezeit.

Am letzten Leseabend setzt Heike Kühn in Schlangentöchter (Frankfurter Verlagsanstalt) das Mädchen Tonie mit einem einem schwarz-rot-goldenem Schlangenschwanz ins Nachkriegsdeutschland. Martin Lechners expressionistischer Kleinstadt- und Bildungsroman Kleine Kassa (Residenz Verlag) stand schon auf der Longlist des deutschen Buchpreises 2014: Der Lehrling Georg aus Lüneburg träumt von einer Karriere als Liftboy am Meer, wird aber stattdessen in einen rasanten Reisekrimi um einen Schwarzgeldkoffer verstrickt.

Ein dicker Scheck für Leo und Walser

Beim Bergfest des Harbour Front Festivals in der Laeiszhalle übergeben die ehemalige Hamburger Kultursenatorin Karin von Welck und der Literaturkritiker Denis Scheck am Sonntagvormittag des 21. Septembers den Preis an Per Leo.

Per Leos erzählerischer Kunstgriff ist es, mit den Augen der Enkelgeneration auf das Verhängnis zu schauen und dabei ohne die üblichen Nazi-Klischees auszukommen

heißt es in der Begründung der Jury. Leo liest vor dem applaudierenden Publikum das Weihnachtskapitel, das in keinem Familienroman fehlen darf und hier Rap-artige Satzkorrekturen der Nationalsozialisten an deutschen Weihnachtsliedern bietet.

Der Moderator Denis Scheck leitet augenzwinkernd vom hochdotierten Literaturpreis zum zweiten Teil der Matinee über: »Sicher haben Sie auch Martin Walser mit der Aussicht auf einen dicken Scheck hierher gelockt – und stattdessen erwarte ich ihn.« Das nun auftretende Urgestein deutscher Literatur Walser zeigt zwar wenig Lust, über seine Tagebücher Schreiben und Leben. Tagebücher 1979-1981 (Rowohlt Verlag) zu diskutieren: »Ich kann nicht alles, was ich einmal geschrieben habe, heute am Sonntagmorgen erklären. Das müssen Sie hinnehmen.« Aber Scheck wäre nicht Scheck, wenn er nicht mit Witz und Hartnäckigkeit doch einige kluge Antworten und geistreiche Tagebuchpassagen aus Walser kitzeln würde, und so folgen ein anregendes Podiumsgespräch und Walsers Wort zum Sonntag: »Ich bin durch Widerspruch geworden, was ich bin«, in dessen Sinne wir allen Wettbewerbern um den Debütantenpreis weiterhin alles Gute wünschen.



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 Veröffentlicht am 6. Oktober 2014
 Foto von Astrid Schwaner
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