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Letzte Griechen

Ein Migrant, der plötzlich in ein anderes Land verpflanzt wird und für den die Frage nach Heimat und nationaler Identität in der Diaspora zunehmend an Bedeutung gewinnt. Aris Fioretos stellt seinen neuen Roman Der letzte Grieche im Literarischen Zentrum vor. Ein Review zum Preview.

Von Niels Penke

»Jeder sei auf seine Art ein Grieche!« forderte ein gewisser Johann Wolfgang von Goethe 1818 in einem Aufsatz Antik und modern. Nicht wenige Adepten haben seitdem versucht, dieses ideale Griechentum hervorzukehren und eine Rolle einzunehmen, die der anerzogenen nationalen Identität vielleicht nicht angemessen schien. Auch Jannis Georgiadis, der Held in Aris Fioretos’ aktuellem Roman Der letzte Grieche, findet sich mit Goethes Imperativ konfrontiert. Ist Jannis dadurch wirklich der letzte seiner Art? Aber von Anfang an.

Zum zweiten oder, das wusste er nicht mehr so genau, vielleicht auch dritten Mal schon war Aris Fioretos zu Gast in Göttingen. Diesmal um zu lesen. Im Gepäck hatte er zwar nicht den angekündigten griechischen Sand, wohl aber seinen neuen Roman – diesen gleich in zweifacher Ausführung, als schwedischen Originaltext und als Arbeitsfassung der noch unveröffentlichten Übersetzung durch, einmal mehr, Paul Berf. Als Musterbeispiel eines polyglott bestens Ausgerüsteten las Fioretos mehrere Passagen aus beiden Fassungen. Dazwischen gab es immer wieder Raum fürs Gespräch, das die Göttinger Skandinavistin Karin Hoff mit Fioretos führte. Lange miteinander bekannt, fiel die Unterhaltung der beiden zwanglos und offen aus. 2006 veranstalteten sie gemeinsam das Bonner Symposion zur Migrationen der Literatur – Literatur der Migrationen, das sich mit literarischen Grenzgängen und -überschreitungen beschäftigte. Denn von Berufswegen ist Fioretos auch Literaturwissenschaftler, und das merkt man. Nicht nur seine Romane lassen durchblicken, dass sie im Bewusstsein zahlreicher literaturtheoretischer Modelle konzipiert sind, auch bei ihrem Verfasser ist dieser Hintergrund unübersehbar. In der Manier eines poeta doctus sprach er über seinen aktuellen Roman Den siste greken (so der Originaltitel von Der letzte Grieche), aber auch und immer wieder gern über seine Schreib- und Kompositionsverfahren, über individuelle und nationale Identitäten, ihre Entstehung sowie auch deren letztliche Auflösung. Meist zog schon ein Stichwort ein minutenlanges Plaudern des auskunftsfreudigen Autors nach sich.

Prismatische Identitäten

Schon nach wenigen Sätzen über den letzten Griechen deutete sich an, dass auch Fioretos’ neuer Roman Grundfragen seiner früheren Texte aufgreift und dabei auch wieder mit bereits bekannten Motiven operiert. Was denn eigentlich der Mensch sei, und was, wenn überhaupt etwas, ihn im Innersten zusammenhält – diese vor allem in seinem Debüt Stockholm Noir (deutsch unter dem pathetischen, aber zutreffenden Titel Die Seelensucherin) dominierende Frage durchzieht auch Den siste greken. Was passiert mit einem, der mit einer ausgeprägten Familien- und Kulturtradition im Rücken nicht genau weiß, was er ist? Der aber die starke Überzeugung hegt, aus mehreren Menschen zusammengesetzt zu sein. Selbst die Erzählweise des Romans verschreibt sich dieser Fragmentierung, wenn der Erzähler Kostas Kezdoglou sich über Karteikarten von einem Tableau zum nächsten hangelt.

Aus einer Krankenakte heraus tritt uns der Held des Romans Jannis Georgiadis erstmals entgegen. Die nüchterne Personenbeschreibung führt einen 24-Jährigen vor, der völlig normal erscheint, doch von seiner Umwelt als einer erfahren wird, der »das reinste Anstaltsverhalten« an den Tag legt. Der erste Grieche in der schonischen Garnisionsstadt Kristianstad ist zugleich der einzige Patient. Dennoch ist der Roman perspektivisch nicht beschränkt, sondern bietet über die Hauptfigur hinaus Ansätze zu einer origo gentes. Fioretos entfaltet ein historisches Panorama über 100 Jahre, greift zurück in die griechische Geschichte des 19. Jahrhunderts, erinnert am Beispiel von Jannis’ Großmutter an die Eroberung Smyrnas durch die Türken 1922 und die darauf folgenden ethnischen Säuberungen. Einer dabei nicht synchronen Schreib- bzw. Erzählstruktur entspricht einmal mehr die Überzeugung, dass auch das Leben nicht immer so synchron und logisch wohlgeordnet verläuft wie es rein oberflächlich den Anschein haben mag – Geschichtsschreibung als sinngebende Konstruktion und damit Vereinfachung und Glättung, Literatur hingegen als das wildere, wirklichere Realitätsäquivalent.

Autor

Mehr Informationen zu Aris Fioretos finden sich auf der persönlichen Homepage des Autors, insbesondere zu seinem neuen Buch Der letzte Grieche, das im Frühjahr 2011 bei Hanser erscheinen wird.

 
 

Verlust von Heimat und identitätsstiftenden Bindungen durchziehen diese, von Fioretos selbst so bezeichnete, »Familiensaga«, die darin mehr als einmal an Vilhelm Moberg erinnert. »Moberg meets Borges« hat einer der vielen begeisterten schwedischen Rezensenten geschrieben und damit auch gleich die zweite wichtige Referenz genannt. Borges postmodernen Tricks und Kniffe sind für Fioretos seither Einfluss und Bezugsgröße gewesen. In einer Vielzahl von unscheinbar-unterschwellig eingeflossenen intertextuellen Verweisen und motivischen Analogien verrät Fioretos einmal mehr seine Herkunft. Doch diese spielerischen Elemente, die den Kunstcharakter des Romans betonen, entheben ihn auch ein Stück weit seiner thematischen Schwere und Tragik. Aufgelockert wird die ansonsten sehr ernste Rahmenhandlung aber auch durch das, was sich auf der individuellen Personenebene abspielt. Großmutter Despinas erste Bekanntschaft zum tauben, aber mit einem »abenteuerlichen Herzen« gesegneten Erol, der ihr Fahrrad repariert und mit ihr auf die Suche nach den besten Mandeln geht. Oder Jannis schließlich, der »schwedische Herakles« mit Robert Mitchum-Grübchen, als Halbgott beim Krocket, als tragische und zugleich liebenswürdige Zwitternatur. Entsprechend der real-historischen Implemente ist Der letzte Grieche als Supplementband zu einer Enzyklopädie der Auslandsgriechen annonciert, ironisch gebrochen freilich durch den Zusatz »nach einer unwahren Geschichte«.

Und der letzte Grieche? Bei Goethe fiel das Plädoyer deutlich aus: »Aber er sei’s.« So entschieden haben vergangene Jahrhunderte in Nationalitäts- und Zugehörigkeitsfragen gedacht – doch auch aus wenigen Tableaus deutet sich an, dass die nationale Identität doch eher unbedeutend sein könnte, wenn Menschen über und Systeme und Grenzen hinweg zu sich oder zueinander finden. Der letzte Grieche als der erste wirkliche Kosmopolit? Ob Aris Fioretos das mit seinem Jannis Georgiadis auch wirklich so und bis zu welchem Ende denkt, wird die deutsche Leserschaft erst im Frühjahr 2011 beurteilen können.

»Ein Seufzer für die, die lauschen wollen«

Entgegen der starken eigenen Präsenz gilt Fioretos’ Augenmerk derzeit einer Dichterin, die »nur im Schatten stehen« und ganz hinter dem eigenen Werk verschwinden wollte, Nelly Sachs. Ein nicht ausgeführtes Dissertationsvorhaben über die Exilantin habe Fioretos fast 25 Jahre mit sich herumgetragen, ehe er jetzt endlich die angestauten Schuldgefühle abbauen konnte. Der zweite Teil der Veranstaltung konzentrierte sich auf Fioretos’ Tätigkeit als der Herausgeber Nelly Sachs’ und ihr derzeitiger Kurator: Eine vierbändige Werkausgabe erscheint bei Suhrkamp, die Ausstellung »Flucht und Verwandlung« war bis zum 27.06. im Jüdischen Museum in Berlin zu sehen. Über die enge Verbindung von Leben und Werk Nelly Sachs’, die beides grundlegend prägende unglückliche junge Liebe, den Sanatoriumsaufenthalt und das heilsame Dichten spricht Fioretos. Über ihren Weg zur eigenen Sprache durch die Übersetzung von schwedischen Autoren, etwa Erik Lindegren und Gunnar Ekelöf, über das Verlangen der Traumatisierten nach Intimität und die große Angst davor, allzu sichtbar zu sein, verraten zu werden. Und mehr als einmal entsteht dabei der Eindruck, dass sich Fioretos mit der Lyrikerin ebenso identifiziert wie er daraus auch Motive für seine Romane gewinnt. Natürlich, wo das eigene Schreiben nur zu 3,5 Prozent aus selbsterfahrenem Er-Leben gespeist wird, fließen andere mit ein. Kollektiv durchlebte und erinnerte Erfahrungen, als auch individuelle, gleichsam exemplarische Biographien finden zueinander, gehen Beziehungen und symbiotische Bindungen ein – prismatische Identitäten eben.

Zum Schluss kommt Fioretos noch einmal auf seinen Roman zurück und liest eine kurze Passage, erst aus dem schwedischen Original, dann die Übersetzung. Deutlich wird die Leichtigkeit und Eleganz der Sprache, des Tons, der im Schwedischen so viel weniger hoheitsvoll klingt. Aber dass ein Hölderlin- und Celan-Übersetzer im Deutschen mit einem entsprechend hohen, elegischen Ton versehen wird, sollte eigentlich nicht verwundern. An die unprätentiöse Schlichtheit von Nelly Sachs’ Sprache erinnert das freilich nicht. Wohl aber an das wenige, was sie bei der Entgegennahme des Nobelpreises 1975 sagte: »An Stelle von Heimat / halte ich die Verwandlungen der Welt.« Das könnte auch in – und über – Fioretos’ neuem Roman stehen.



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 Veröffentlicht am 29. August 2010
 Die griechische Königsfamilie um 1910 via Flickr
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