Laurel fühlt sich einsam und verlassen, denn sie hat niemanden, mit dem sie über das sprechen kann, was sie tief in ihrem Inneren quält. Die Mutter ist weg, ihre Schwester ist tot und Freunde hat sie an ihrer neuen Schule auch keine. Aber wieso sieht das Leben bei allen anderen immer einfacher aus als bei einem selbst? In ihrer jugendlichen Verzweiflung schlüpft Laurel in die Kleider ihrer großen Schwester May, die sie früher für ihre Stärke und ihr Selbstbewusstsein bewundert hat. Dabei muss sie jedoch feststellen, dass manchmal gerade die Menschen, die am stärksten wirken, es in Wahrheit am schwersten haben. Love Letters to the Dead ist der berührende Debütroman der Amerikanerin Ava Dellaira. Er erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens, das in ihrem Leben schon viel verloren hat, aber auf ihrem Weg des Erwachsenwerdens nicht nur viele Freunde, sondern auch so manche Erkenntnis dazugewinnt.
Von Noëlle Bölling
»Ich glaube, wenn man etwas verliert, das einem wirklich viel bedeutet, ist das so, als würde man ein Stück von sich selbst verlieren«, meint Laurel in einer Schulstunde. Wie es sich anfühlt, einen geliebten Menschen zu verlieren, weiß sie ganz
Im Rahmen einer Schulaufgabe fängt Laurel damit an, Briefe an große Persönlichkeiten zu schreiben, die sie und May früher gemeinsam vergötterten. Viele von ihnen – wie beispielsweise Kurt Cobain, Amy Winehouse oder Janis Joplin – zählen zum berühmt berüchtigten Klub der 27, der eine Reihe von Musikern bezeichnet, die im Altern von 27 Jahren – oft durch eine Überdosis oder Selbstmord – starben. Zum ersten Mal seit Langem hat Laurel das Gefühl, sich jemandem mitteilen und anvertrauen zu können, denn die einstigen Idole ihrer Schwester wissen, was es bedeutet, sich einsam und unverstanden zu fühlen. Um ihrer großen Schwester noch etwas näher zu sein, schlüpft die 14-Jährige schließlich in das Outfit, das May an ihrem ersten Tag in der Highschool getragen hat. Mit gestärktem Selbstbewusstsein schafft Laurel es daraufhin, neue Freundinnen in der Schule zu finden. Endlich gehört sie dazu, betrinkt sich und schwänzt die Schule. Als dann auch noch der mysteriöse Sky in ihr Leben tritt, den sie zuvor lediglich heimlich vom Rand des Schulhofs aus beobachtete, scheint es für sie endlich wieder bergauf zu gehen.
Endlich kann Laurel neue Hoffnung schöpfen. Sie hat tolle Freundinnen und einen Freund, der sie liebt. Nach der Scheidung ihrer Eltern und dem Tod ihrer Schwester scheint ihr Leben nun langsam wieder in normalen Bahnen zu verlaufen. Doch gerade, als alles wieder gut zu werden scheint, bricht das Kartenhaus, das sie wie eine Festung um ihr wahres Ich herum gebaut hat, auch schon wieder in sich zusammen. Ohne ersichtlichen Grund macht ihr Traumprinz Sky plötzlich Schluss, sodass Laurel erneut in ein tiefes Loch fällt. Ist es wirklich möglich, dass Sky ihre Schwester May kannte? Und kann es sein, dass sein plötzlicher Sinneswandel etwas mit ihr zu tun hat? Fragen über Fragen, auf die Laurel erst nach und nach eine Antwort erhält. Doch die Wahrheit hinter den Dingen ist noch viel erschütternder, als Laurel es sich jemals hätte vorstellen können. Denn nicht nur sie ist von der Vergangenheit mit unsichtbaren Narben gezeichnet worden. Dasselbe gilt auch für ihre geliebte große Schwester May.
Das wahre Leben ist kein MärchenLove Letters to the Dead ist der Debütroman der US-Amerikanerin Ava Dellaira. Obwohl er zunächst den Anschein einer einfach gestrickten Teenieromanze erweckt, wird bald deutlich, dass hinter der Geschichte viel mehr steckt als das. Was Laurel erlebt, ist kein Märchen, in dem eine verzweifelte Schönheit von ihrem Traumprinzen gerettet wird und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Ganz im Gegenteil. Schon bald erhält der Leser einen Blick hinter die Fassade dieses unglücklichen Mädchens, das am liebsten so wäre, wie ihre Schwester es vor ihrem Tod gewesen ist: wunderschön, beliebt und glücklich. Mit jedem einzelnen Brief erfährt man mehr über Laurel und ihre Vergangenheit, aber auch über den Tod ihrer Schwester. Offen bleibt jedoch die Frage, ob dieser ein Unfall war oder nicht, denn Mays Faszination für Musikern wie Kurt Cobain oder Jim Morrison kommt nicht von ungefähr. Mit ihren einfühlsamen Songtexten halfen sie auch Laurels Schwester durch schwere Zeiten. Eines zeigt Dellaira in ihrem Werk aber sehr deutlich: dass es keinen Sinn macht, sich hinter der Identität von jemand anderem zu verstecken. Früher oder später holt die Realität die Fantasie ein und bringt schonungslos ans Licht, wer man wirklich ist. Mit ihrem ersten Roman will Dellaira ihren Lesern zeigen, dass man nicht nur den Menschen, die man liebt, sondern auch sich selbst gegenüber ehrlich sein sollte. Für die junge Protagonistin des Romans Love Letters to the Dead kommt diese Einsicht jedoch zu spät, denn hätte sie ihrer Schwester und ihren Eltern viel früher die Wahrheit über jene Dinge gesagt, die sie so sehr belasten, hätte sie möglicherweise viel Schlimmes verhindern können.
Ein Debüt, das berührtLove Letters to the Dead ist ein Roman, der sich stilistisch neben Werken wie John Greens Das Schicksal ist ein mieser Verräter oder Wolfgang Herrndorfs Tschick einwandfrei in das Genre der All-Age-Literatur einreiht. Mit viel Fingerspitzengefühl erzählt Ava Dellaira die Geschichte eines jungen Mädchens auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden. Dennoch ist es ein Buch, das auch ältere Leser begeistern kann. Zusammen mit Laurel kann auch ein erwachsener Leser noch einmal jene Zeit durchleben, die vielleicht die schwerste des Lebens ist – und muss dabei das ein oder andere Mal tadelnd den Kopf schütteln. Einerseits wollen wir frei sein und neue Dinge ausprobieren, um herauszufinden, wer wir eigentlich sind. Andererseits – und das muss auch die Protagonistin des Romans feststellen – wünschen wir uns alle manchmal aber auch einfach nur jemanden, der sich um uns sorgt und uns beschützt. Dellairas Love Letters to the Dead ist ein Buch, das lehrt, nicht nur das Vordergründige zu sehen, sondern auch einmal einen Blick hinter die Fassade der Menschen zu werfen.