Das 21. Jahrhundert gilt als Jahrhundert der Lebenswissenschaften. Wie sich die Literaturwissenschaft zu diesem neuen Paradigma verhalten könnte, diskutiert der Sammelband Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft von Wolfgang Asholt und Ottmar Ette.
Von Rahel Rami
Der von Ottmar Ette und Wolfgang Asholt vorgelegte Sammelband Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft1 stellt einen Auszug aus einer Debatte dar, die Ottmar Ette durch seine »Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften« angestoßen hat, die 2007 in Heft 127 der Zeitschrift lendemains veröffentlicht wurde. Die Programmschrift hatte sich zum Ziel gesetzt, die Diskussion über eine Neuorientierung und -positionierung der Literaturwissenschaften im biowissenschaftlich dominierten Wissenschaftsbetrieb anzustoßen, die idealerweise in einer transdisziplinären und gleichberechtigten Zusammenarbeit mit jenen Life Sciences mündet.
Der Sammelband gliedert sich in drei Abschnitte:
1. Die Wiedergabe der lendemains-Debatte
2. Verschiedene Aufsätze, die im erweiterten thematischen Umfeld angesiedelt werden können
3. Anhang mit Reden und Interviews, die im losen Kontext mit dem Thema stehen
Den Ausgangspunkt bildet Ettes Beitrag, in dem er vorschlägt, den Life Sciences, die sich auf naturwissenschaftlich-interdisziplinäre Weise der Erforschung und Verbesserung des Lebens widmen, das Monopol streitig zu machen. Die naturwissenschaftliche Dominanz in Bezug auf die Erforschung des Wissens vom Leben und des Lebens selbst, trage die Gefahr in sich, einen reduktionistischen Lebensbegriff zu prägen, der Leben als biochemisches und kulturbefreites Konstrukt versteht. Um dem vorzubeugen sei es notwendig, eine kulturelle Komponente im ›Wissen über das Leben‹ – dem Forschungsgegenstand der Life Sciences – zu installieren. Die Literaturwissenschaft bietet sich laut Ette dafür an, da sie ein »hochrückgekoppeltes Multi-Parameter-System« (24) des Lebens ist. Sie hat Zugriff auf Wissensbestände und Diskurse, an denen sich die Life Sciences nicht beteiligen können, und verfügt damit über ein facettenreicheres Lebenswissen, dessen Speichermedium die Literatur ist.
Problematisch, und entsprechend von vielen Beiträgen berücksichtigt, ist hier die relative Autonomie der Literatur. Die Literatur als autonomes, d.h. eigengesetzliches und geschlossenes Kunstwerk, kann kein Wissen über das Leben vermitteln, da es eben vom Leben unabhängig ist und seinen eigenen Regeln folgt. Für Ettes Unternehmungen müsste diese Autonomie zum Teil aufgehoben werden, damit die Literatur Lebenswissen wiedergeben und damit auch produzieren kann.
Christoph Menke fordert in seinem Aufsatz »Jenseits von Geistes- und Biowissenschaften«, diese Autonomie in Teilen aufrecht zu erhalten und Literatur nicht allein als Lebenswissensproduzent zu betrachten. Stattdessen plädiert Menke dafür, Literatur weiterhin als autonom zu konzipieren, da gerade auf diese Weise das Leben Teil der Literaturwissenschaft bleibt. Denn Aufgabe der Literatur im lebenswissenschaftlichen Zusammenhang sei es, die Zirkulation des Lebenswissens zu unterbrechen und so Leben und Wissen voneinander zu trennen. Damit komme ihr eine das Leben kritisch reflektierende Rolle zu. Sie ist dann zwar immer noch Speicher, aber kein Produzent von Lebenswissen mehr.
Wolfang Asholt schlägt in seinem Beitrag »Neues Leben (in) der Literarturwissenschaft?« bezüglich der literarischen Autonomie vor, neben der radikalen Autonomie-Auffassung eine weitere Position zu etablieren, nämlich dass Literatur ein Wissensspeicher ist, dessen Inhalt sich auf das reale Leben übertragen lässt und sich im Zuge dessen als erkenntnisbringend für den Rezipienten erweist. Eine gleichberechtigte Ko-Existenz beider Richtungen sei eine ideale Bedingung für den Fortbestand der Literaturwissenschaft einerseits und eine Neuorientierung und damit Etablierung derselben in den Life Sciences andererseits.
Charakteristisch für die Diskussionsbeiträge ist, dass sie weitgehend Zustimmung signalisieren und das Ette’sche Unterfangen nur in einzelnen Punkten präzisieren wollen. So nimmt Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Beitrag »Wie könnte man nicht einverstanden sein? Bestimmender Widerspruch zu Ottmar Ette« eine »Konturenverstärkung« (82) der Ette’schen Programmatik in zwei Punkten vor. Der erste Punkt betrifft die Literatur als Vermittler von verbindlichen Modellen des Zusammenlebens. Gumbrecht wendet ein, dass Literatur keine normgebende Instanz sei, vielmehr diene sie dazu, den Rezipienten dazu anzuregen, über seinen Lebensentwurf nachzudenken. Dass Ette der Literatur eine normative Funktion zuschreibt, geht allerdings aus dessen Aufsatz nicht hervor. Vielmehr geht er von besagtem Erprobungsraum aus, den die Literatur bietet und der es ermöglicht, Lebensentwürfe auszuprobieren und zu verwerfen. Gumbrechts zweiter Punkt betrifft das kreative und ästhetische Moment der Literatur, welches bei Ette nicht ausreichend berücksichtigt werde. Denn das Potential der Literaturwissenschaft liege nicht im »vollmundige[n] Predigen ethischer Prinzipien« (83), sondern im kreativen Denken. Auch die von Ette in den Fokus gerückte Lebensnähe entstünde durch die kreative Verwendung von Sprache, also literarischen Verfahren.
Toni Tholen macht in seinem Aufsatz einen begrifflichen Korrekturvorschlag. Ettes Programmatik sehe vor, analytisch schwer fassbare Themen wissenschaftlich zu bearbeiten. Der Impetus der Literatur sei jedoch ein anderer, es gehe ihr und den Lesern nicht darum »Konzepte der Lebensführung« (99) theoretisch, d.h. wissenschaftlich zu extrapolieren. In der Literatur finde der Leser vielmehr Antworten auf jene Fragen, die sich ihm im Lebensvollzug stellen. Diese Antworten kann die Literaturwissenschaft jedoch nicht geben, da sie sich als Wissenschaft auf einer theoretischen Metaebene mit Lebenskonzepten etc. beschäftigt und damit keinen direkten Zugriff auf das Lebenswissen hat. Tholen schlägt daher vor, nicht von Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft zu sprechen, sondern von einer »Philologie des Lebens«, die das wissenschaftliche Moment, das unbestrittenerweise in der Literaturwissenschaft besteht und beim Zugriff auf das Lebenswissen hinderlich ist, zeitweise aussetzt.
Des Weiteren bezweifelt er, ob die von Ottmar Ette herangezogene Rezeptionsästhetik das geeignete Mittel ist, um die erzeugte Lebensnähe zu beschreiben. Der rezeptionsäthetische Begriff des ›Erlebens‹ geht mit anderen Prämissen an die Literatur heran, als Ette mit dem »Verstricktsein von Literatur und Leben« (103) intendiert. Die Rezeptionsästhetik berücksichtige ein »punktuelle[s] ästhetische[s] Erlebnis« (103); Ette fordert hingegen eine weitgreifendere experimentelle Literatur-Rezeption, deren Erfahrung der Rezipient schließlich auf sein Leben übertragen kann. Tholen zu Folge sei es sinnvoller, sich an Gadamer zu orientieren, und Lesen als eine hermeneutische Erfahrung zu verstehen (vgl. 106), das heißt: durch das ›Betroffensein‹ des Lesers ergibt sich ein Frage-Antwort-Spiel zwischen Text und Leser, in dessen Verlauf es schließlich zu der Übertragung der gefundenen Antworten auf das Leben des Rezipienten kommt.
Ebenfalls um eine Präzisierung und Absteckung des potentiellen lebenswissenschaftlichen Aufgabenfeldes sind Klaus Michael Bogdal und Ansgar Nünning bemüht und weisen im Zuge dessen auf die Notwendigkeit der Bewahrung einer fachlichen Selbstständigkeit hin.
Bogdal sieht eine Gefahr der Entgrenzung und damit des Verschwinden des eigenen Faches, wenn sich die Geisteswissenschaft den Naturwissenschaften anschließt. Er weist darauf hin, dass es zwar wichtig sei, die Ergebnisse fachfremder Forschungen in die literaturwissenschaftliche Arbeit einzubeziehen. Es sei jedoch nicht erstrebenswert eine »Universaltheorie des Lebens« entwickeln zu wollen, indem alle Disziplinen miteinander verschmolzen werden, zumal dies wissenschaftsgeschichtlich nie erfolgreich gewesen sei und – so bemerkt Bogdal mit Blick auf die DDR – mit »wissenschaftstheoretischen Homogenisierungtendenzen« (86) einherging. Erfolgversprechender sei es hingegen, Anschlussmöglichkeiten an andere Wissenschaften zu suchen und anzubieten, ohne jedoch das literaturwissenschaftliche Fachgebiet zu Gunsten eines Zusammenschlusses aufzugeben, würde es doch so mitsamt der Literatur »verschwinden« (87).
Darüber hinaus würden, so Bogdal, beim Anschluss an die Naturwissenschaften – und der damit einhergehenden Konzentration auf das Wissen vom Leben – andere Domänen der Literaturwissenschaft nicht berücksichtigt: »Nützlich sind die Geisteswissenschaften, wenn sie Unterdrückung, Ungleichheit, Konkurrenz, Ignoranz, Lüge, Verstellung, religiösen Haß und deren sprachlich-ästhetische Repräsentationsformen untersuchen. All das mit dem Begriff des ›Lebensreichtums‹ zu belegen, fällt schwer.« (92) Ette würde hier vermutlich einwenden, dass die genannten Themen trotz allem zum Leben gehören und damit auch Teil der Lebenswissenschaften wären.
Auch Ansgar Nünning steht in seinem Aufsatz »Lebensexperiment und Weisen literarischer Welterzeugung: Thesen zu den Aufgaben und Perspektiven einer lebenswissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft« einem Anschluss an die Life Sciences kritisch gegenüber. Es sei nicht notwendig die »fachliche Identität« (59) preiszugeben, um dem wissenschaftlichen Mainstream zu folgen. Es sei stattdessen sinnvoller, innerhalb des Faches eine Neuorientierung vorzunehmen, die Lebenswissen, Lebenskunst stärker in den Blick nehme. Um dies zu können, muss die Literaturwissenschaft allerdings zunächst einige Dinge klären. Zum einen, was es bedeutet, dass Literatur Wissen enthält, bzw. ob sie überhaupt Wissen enthalten kann, zum anderen muss das Verhältnis zwischen Fiktion und Realität näher bestimmt werden, d.h., ob fiktionale Texte die Realität des Leser lediglich abbildet oder ob sie durch die Abbildung Wissen einer eigenen Art erstellen. Des Weiteren ist es erforderlich die Funktion der Literatur als Erprobungsraum näher zu beschrieben.
Der zweite Teil des Sammelbandes ist ein Zusammenschluss von Texten, die in mehr oder weniger starker Verbindung zum Thema stehen. Ein Teil der Aufsätze erweist sich als erhellend, da sie zum einen die Umsetzbarkeit einer Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft zeigen: So untersucht Vera Nünnung Ian McEwans Roman Enduring Love auf Lebenswissen und weist schließlich darauf hin, dass es notwendig sei, mit Bezug auf das in der Literatur enthaltene Lebenswissen »Kategorien [zu] entwickel[n], die es erlauben, die relevanten formalen und inhaltlichen Facetten […] zu analysieren« (168).
Zum anderen geben die Aufsätze des zweiten Teils konkrete Hinweise, welcher theoretische Ansatz gewinnbringend eingesetzt werden kann. Michael Basseler schlägt vor, einen pragmatischen Ansatz zu wählen, der sich allerdings von der Ette’schen Programmatik darin unterscheidet, dass das Lebenwissen nicht primär im Text enthalten ist, sondern erst im Moment der Rezeption entsteht.
Weniger erhellend ist im zweiten Teil der Aufsatz von Josu Landa, der in einer Zusammenfassung der Ette’schen Programmatik besteht. Da dieser Text ursprünglich auf Spanisch erschien und für den Sammelband übersetzt wurde, liegt die Vermutung nah, dass er als thematische Einführung für spanische Literaturwissenschaftler gedacht war. In diesem Sammelband erweist er sich im Grunde als überflüssig.
Der dritte Teil des Bandes besteht aus Interviews, einer Laudatio auf Jorge Semprún und einer Rede desselben. Auch hier gilt, dass dieser Teil zur Diskussion und Skizzierung einer fachlichen Neuausrichtung nichts Wesentliches mehr beiträgt.
FazitIm ersten Teil, auch Hans Ulrich Gumbrecht (vgl. 81) erwähnt dies, ist die grundsätzliche Einigkeit bei allen Beteiligten augenfällig. Alle Beiträge verhalten sich wohlwollend und zustimmend zu einer mehr oder weniger starken Neuausrichtung hin zu den Bio-Wissenschaften. Keiner signalisiert dezidiert Widerspruch, alle verstehen die Neuausrichtung als Ergänzung (Nünning, S. 48), wodurch die Diskussion phasenweise redundant und bemüht wirkt, zumal sich bspw. die Argumente für und gegen die Aufhebung der Autonomie der Literatur wiederholen. Auch der Hinweis auf die nationalsozialistische Konnotierung des Begriffs ›Lebenswissenschaft‹ in nur einem Aufsatz statt in dreien hätte ausgereicht.
Dies ist vermutlich der Publikationsgeschichte geschuldet, da die Aufsätze in verschiedenen Zusammenhängen entstanden sind (die ersten Aufsätze sind als Reaktion auf eine Podiumsdiskussion entstanden und in lendemains publiziert worden, die dann folgenden stellen wiederum Reaktionen auf die ersten Aufsätze dar). Eine Straffung wäre hier sinnvoll gewesen.
Im Hinblick auf die Aufteilung hätte der Verzicht auf einen Teil jener Texte, die weder für die Theorie noch für die Praxis von weitreichender Bedeutung sind, zugunsten eines stärkeren Praxisbezugs den Band noch aufwerten können.
Positiv ist hervorzuheben, dass der Sammelband durch seinen Fokus auf das Lebenswissen in der Literatur auf einen Aspekt aufmerksam macht, der – zumindest im germanistischen literaturwissenschaftlichen Studium – selten explizit thematisiert wird. Dabei bietet er insgesamt einen guten, wenn auch anspruchsvollen Einstieg in ein noch wenig systematisch erforschtes Themengebiet.