In der einzigen Jugendbuchlesung des Literaturherbstes stellt Cornelia Funke ihren neuen Reckless-Roman vor und ermöglicht einen Einblick in ihren Arbeitsalltag, den Entstehungsprozess ihrer Figuren sowie ihr Zuhause in Kalifornien – inklusive Avocado-Farm und Hundegebell.
Von Friederike Röpke
Der Wasserkocher pfeift, ich gieße meinen Tee auf und setze mich vor den Laptop. Es ist Samstag, der 24. Oktober, 17 Uhr, und jeden Augenblick kann die Live-Lesung Cornelia Funkes im Rahmen des Literaturherbstes Göttingen beginnen – für einige Besucher:innen im Alten Rathaus in Göttingen, für mich in meinem Wohnzimmer. Zu sehen ist die Autorin Margarete von Schwarzkopf, die durch den frühen Abend moderiert und ebenfalls vor einem Laptop sitzt. Auf einer großen Leinwand hinter ihr ist Cornelia Funke in ihrem Atelier – ihrer Garage – in Malibu, Kalifornien, zu erkennen, umgeben von lauter Malutensilien und buntbemalten Leinwänden, die auf Funkes Arbeit als Illustratorin ihrer Buchreihe Reckless verweisen. Dass es dem Online-Publikum nicht möglich ist, aktiv an der Lesung teilzuhaben – also weder in der Lage zu sein, Fragen zu stellen, noch zu applaudieren – ist ungewohnt, gehört die verbale und nonverbale Kommunikation zwischen Zuhörenden und Podiumsgästen doch wie selbstverständlich zu »klassischen« physischen Lesungen dazu. Dieses Format hat auch Auswirkungen auf Funke: Da sie weder das im Rathaus anwesende Publikum noch die digital zugeschalteten Menschen sehen kann, scheint es, als unterhalte sie sich mit Margarete von Schwarzkopf allein über Leben und Literatur: ein Gespräch zwischen Freundinnen also.
Während der Lesung wechselt Funke den Raum, begibt sich in ihr Wohnzimmer, wo man im Hintergrund sowohl einen Weihnachtsbaum als auch einen ihrer Hunde erblicken kann. Außerdem zeigt sie von Schwarzkopf ihren dschungelartigen Garten aus dem Fenster heraus. Diese Wohnzimmer-Atmosphäre ist entspannt, die beiden Frauen sympathisch, und obwohl im Laufe der Lesung nur wenige Passagen aus Reckless 4. Auf silberner Fährte vorgelesen werden, führen Funke und von Schwarzkopf das Publikum mit ihrem Dialog in die fantastische Welt der Bestseller-Autorin und ihrer märchenhaften Bücher.
Funke, die MärchenerzählerinSeit dem Erfolg der Tintenwelt, dem Herr der Diebe oder von Die Wilden Hühner ist bekannt, dass Cornelia Funke großartige fiktive Geschichten schaffen kann. Mit der Reckless-Reihe beweist sie, dass sie ihre Welten auch problemlos mit der Textgattung des Märchens verbindet und Elemente aus dieser gekonnt in die von ihr geschaffenen Welt überträgt. Man könnte sagen, dass sie in ihren Reckless-Büchern eine Geschichte von und mit Märchen erzählt. Sie zieht ihre Leser:innen förmlich in die Spiegelwelt, die unter anderem von dunklen Feen, Formwandlern, anthropomorphen Gestalten und sogenannten Goyl mit Haut aus Stein bewohnt wird. Wir begleiten die Brüder Jacob und Will (eine Art Alias der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm?) und die Formwandlerin Fuchs auf ihrer Reise von dem New York »unserer realen Welt« in diese Spiegelwelt. Dort lesen wir von Schatzsuchen, gefährlichen Flüchen sowie Intrigen, Verlust, Liebe und Tod.
Neben den Fabelwesen, dem Lösen von Rätseln und der Bekämpfung des Bösen gibt es noch ein weiteres typisches Motiv, das in Märchen vorkommt und auch bei Funkes Reckless-Reihe einen wichtigen Platz einnimmt: die Geschwister- beziehungsweise die Brüderbeziehung. Während des Schreibprozesses tauschte sich Funke mit dem Drehbuchautor und Filmproduzenten Lionel Wigram über dieses Thema aus. Dieser, ein guter Freund Funkes, ist vor allem durch seine Arbeit als Executive Producer der Harry Potter-Filme und als Produzent der Reihe Phantastischen Tierwesen bekannt. Sowohl Wigrams schwierige Beziehung zu seinem Bruder als auch Funkes eigene Erfahrungen mit ihren Brüdern, von denen einer bereits verstorben ist, boten Basis und Inspiration für die komplexe Beziehung der »Reckless-Brüder«.
Ich stehle die Gesichter der Toten.
Was sich nach dem Zitat aus einem Horrorfilm anhört, ist Funkes Beschreibung ihrer Arbeitspraxis. Um Ideen für ihre Figuren zu bekommen schaut sie sich gerne Fotografien aus dem 19. Jahrhundert an, denn in diesem Zeitraum spielt die Geschichte der Reckless-Brüder Jacob und Will. Sie zeichnet die abgebildeten Personen nach, »stiehlt ihnen die Gesichter« und erfindet Geschichten und Charakterzüge dazu, welche die einst realen Menschen in Gestalten ihrer Märchenwelt verwandeln. Erst danach beginnt sie mit der wörtlichen Ausformulierung ihrer Figuren auf Papier.
Funke spricht von ihren Charakteren, als seien sie real existierende Personen, die selbstständig in die Geschichten hineinspazieren und aktiv an der Entwicklung der Bücher beteiligt sind.
So erzählt sie, dass ihre Bösewichte eigentlich weniger interessante Persönlichkeiten seien sollten, aber immer wieder versuchten, sich in den Vordergrund zu drängen: Sie müsse aufpassen, ihnen nicht zu viel Raum zu geben. All ihre Figuren entwickelten ein Eigenleben. So kämen einige auf unscheinbare Weise auf sie zu, manche seien »sehr dramatisch in ihrem Aufritt« und ließen »sich nicht mehr abwimmeln« und wieder andere seien so frech, dass sie ganz aus der Geschichte gestrichen würden, berichtet die Autorin. Die Grenze zwischen Fiktion und Realität scheint bei Funke nicht nur in den Reckless-Büchern zu verschwimmen. Und genau dieser Umgang mit ihren Figuren und Welten macht die Autorin so sympathisch – und die viel zu kurz wirkende Lesung zu einem interessanten Blick hinter die Kulissen der Arbeit einer der bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautor:innen.
Nun wäre es wahrhaftig »leichtsinnig« zu behaupten, es handle sich bei Funkes Reckless-Reihe um Kinderbücher. Da laut Funke »Erwachsenen-Themen« behandelt werden, empfiehlt sie sie für Menschen ab 16 Jahren – ohne Obergrenze. Dass man die Romane als generationenübergreifend verstehen kann, bestätigt Margarete von Schwarzkopf, indem sie die Reihe als »All-Age«-Werk bezeichnet – woraufhin Funke von Frauen mittleren Alters berichtet, die sich bei Lesungen für die Figur Fuchs bedankten, weil sie sich mit ihr gut identifizieren konnten. Und warum sollten Erwachsene sich nicht in einer Welt voller magischer Wesen und endlosen Möglichkeiten wiederfinden können?
Und wenn sie nicht gestorben sind…… dann gibt es noch einen fünften Band. Da fast eine Dekade zwischen dem ersten Buch ihrer Reihe und dem am 2. November im Dressler Verlag erschienenen vierten Band liegt, ist die Frage berechtigt, die sich wohl nicht nur Margarete von Schwarzkopf stellte: Wieso gibt es einen so großen zeitlichen Abstand zwischen den Veröffentlichungen der Reckless-Bücher? Denn im Schnitt benötigt Funke für die Fertigstellung eines Bands etwa zweieinhalb Jahre. Funke antwortet darauf, dass die Recherchearbeit sehr umfangreich sei. Sie lese die Märchen aus dem jeweiligen Land, mache sich mit der Kultur und den verschiedenen Orten vertraut, die zum Schauplatz ihrer Geschichten würden. Zudem schreibe sie ihre Bücher mindestens sechs bis sieben Mal um. Außerdem benötige sie nach dem Abschluss eines Reckless-Buches »leichtere« Themen und widme sich deshalb anderen Projekten, wie den Drachenreiter-Büchern, für die sie im Vergleich nur knapp ein Jahr zum Schreiben brauche.
Laut Funke soll der fünfte gleichzeitig der letzte Band der Reckless-Reihe sein. Aber das sollte keinen Märchen- oder Funke-Fan traurig stimmen, denn es gibt in Zukunft noch weitere spannende Projekte der deutschen Autorin: unter anderem neue Drachenreiter-Bücher und ein Drehbuch für Die Wilden Hühner – es ist ein Film in Planung, in dem Sprotte, Frieda und Co. um die dreißig Jahre alt sein werden. Spannend also für diejenigen, die mit den Wilden Hühnern groß geworden sind und jetzt gerne wüssten, wie deren Lebenswelt heutzutage aussieht. Hoffentlich genauso märchenhaft wie Funkes Reckless-Bücher!