Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Barbara Vinken las im Göttinger Bekleidungsgeschäft Woggon aus ihrem Sachbuch Angezogen. Das Geheimnis der Mode. LitLog-Autorin Daniela Lottmann hat sich vorab mit Vinkens Buch auf Entdeckungstour begeben – und war zunächst einmal schockiert.
Von Daniela Lottmann
Das erste, was jeder halbwegs normale Mensch tut, wenn er beginnen möchte ein Hardcover mit Schutzumschlag zu lesen, ist den Schutzumschlag zu entfernen und ihn in das private Bermudadreieck zu verwerfen. Schutzumschläge findet man nämlich nie wieder. Man webt sie aus dem gleichen Material wie diese selbstauflösenden Operationsnähgarne. Ich pule also das gute Stück erst aus seiner Plastikverschweißung, streichle mit der Hand über den Schutzumschlag, spüre die Samtheit des Materials und rieche den Kleber, streife den Schutzumschlag ab wie ich einem Geliebten die Kleider abstreifen würde – und bin schockiert.
Das Buch mit dem Titel Angezogen. Das Geheimnis der Mode stammt aus der Feder von Barbara Vinken und ist 2013 beim Verlag Klett-Cotta erschienen. Vinken forscht als Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist aber vor allem durch ihr Buch Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos auch als Sachbuchautorin bekannt. Ihr Buch Angezogen wurde auf die Shortlist des Leipziger Buchpreises 2014 gewählt und handelt, wie leicht zu erraten ist, von Mode. Und wenn der Name der Autorin nicht schon per se eine erhellende Lektüre verspräche, würde man das Buch für ein Dekoartikel im Barbie Dreamhouse halten. Denn es ist rosa unter dem Umschlag. Sofort blinken bei mir die lila Alarmleuchten und in meinem Kopf entzündet sich ein Feminismus-Hiroshima. Grelles Scheiß-Rosa.
Diese Abneigung ist natürlich unfair gegenüber einer Farbe. Prinzessin Lillifee machte sie mir madig, Barbie hat mich versaut. Das geht einigen so, wie schon der Name einer internationalen Protestbewegung gegen limitierende Geschlechterrollen – Pink Stinks – zeigt. Aber was sagt diese Farbe über das Buch aus? Ist es ein Frauenbuch? Sind es überhaupt nur Frauen, die sich mit Mode beschäftigen? Und wer erklärt das mal meinem bärtigen Hipsternachbarn? Und mit Fragen wie diesen lande ich voll Karacho in medias res von Angezogen: Vinkens Geschichte der Mode ist auch die Geschichte der Geschlechterunterschiede.
»Während der Männerkörper in der Mode der Moderne seine Geschlechtlichkeit ummarkiert lässt, geht es in der weiblichen Mode ausschließlich um die Markierung von Geschlechtlichkeit.«
Ein zentraler Satz, den man erst mal sacken lassen muss, um dann kleinlaut zuzugeben: stimmt. Noch schlimmer: Ich mache das auch. Und da erreicht mich, schon hier auf Seite 36, das ungute Gefühl, dass sich über Mode nicht denken lässt, ohne dass die eigene Gewohnheit sich anzuziehen im Hinterkopf mitschwingt. Und jetzt macht dieses Buch richtig schlechte Laune. Zumindest wenn man Geschlechterrollen assi findet und lieber »die, mit den Fähigkeiten« als »die, mit der Vagina« ist.
»Das zur Schau gestellte, gelöste Haar signalisiert im Westen, dass eine Frau der Norm entspricht, heißt: sexuell aufgeschlossen, modern und emanzipiert, selbstbewusst und selbstbestimmt.«
Das sind schöne Worte, heißt aber auch, dass ich hier in diesem Café, als ich diese Worte in meinen Laptop tippe, mit meinen zusammengebundenen Haaren ein ganz anderes Signal ausstrahle. Und in eben diesem Moment trifft mich der Blick eines etwa 50-jährigen Bauarbeiters, der mich anguckt, als wäre ich ein totes Tier auf der Autobahn. Ob der das Buch auch gelesen hat und mich jetzt auf meine sexuelle Aufgeschlossenheit prüft? Schwein.
Andererseits vermittelt das Buch aber auch eine andere Sicht: Mode macht Spaß. Mit unserer Kleidung können wir Botschaften senden und uns zu einer Gruppe zugehörig und geborgen fühlen. Das schafft Sicherheit. Aber durch Mode können wir uns auch betont von anderen absetzen, Meinungen vertreten und den eigenen Charakter in die Welt senden. Und genau so meint es wohl auch mein bärtiger Hipsternachbar. So voll ironisch.
All das vermittelt Vinken in einem angenehmen Ton, jenseits verklausulierter Wissenschaftssprache. Mit süffisanten Kommentaren bereitet sie ihren Text auf und legt ein Buch vor, das schon wegen seiner Sprache eine unbedingte Lektüreempfehlung verdient. Das wirkt heilsam auf meine allgemeine Miesepetrigkeit, die dieses Buch in mir hervorgebracht hat. Und den rosa Umschlag verzeih ich ihm auch. Ausnahmsweise.