Judith Hermann legt in ihren Romanen und Erzählungen den Fokus auf die Menschen und ihr Miteinander. Die Leserschaft konnte sie bereits in ihrem Debüt Sommerhaus später von dem schlichten, leicht melancholischen Stil überzeugen. Dieser findet sich auch in ihrem neuen Erzählband Lettipark wieder.
Von Svenja Sokolowski
In der Erzählung Inseln sieht Iris ihre Freundin Martha auf einem Urlaubsbild und erinnert sich an ihre gemeinsame Zeit. Einen solchen Moment erlebt wohl jeder, wenn er alte Fotos anschaut. Dabei kann es sich um eine Kindergartenfreundin, eine Schulfreundin oder einen ehemaligen Arbeitskollegen handeln, von denen man sich entfernt hat. Erinnerungen werden wach und längst vergessene Momente leben für eine kurze Zeit erneut auf.
»[…] Ich habe sie nicht ganz aus den Augen verloren. Wenn wir uns an einem solchen Abend begegnen, halten wir einen vorsichtigen Abstand und beobachten einander eine ganze Weile – verstohlen, wir werden älter, wie machen wir das – und kommen dann doch zusammen und fangen ein Gespräch an, das ähnlich ist wie die Gespräche, die wir vor zwanzig Jahren miteinander geführt haben, und dennoch völlig anders.«
Judith Hermann führt dem Leser in ihrem Erzählband Lettipark Begegnungen und Erlebnisse oder Erinnerungen vor Augen, wie Iris sie beispielsweise mit ihrer alten Freundin Martha erlebt. In 17 Erzählungen treffen so unter anderem eine Frau auf das ehemals schönste Mädchen der Straße, ein Mann auf seinen neuen Adoptivsohn, Henry berichtet von Neil Armstrong und Selma erlebt, wie sich ein befreundetes Ehepaar trennt. Bei den Figuren handelt es sich um gewöhnliche Menschen, die größtenteils in den Mittvierzigern stecken und einem geregelten Alltag nachgehen. Aufmerksamkeit erwecken sie durch ihre Geschichten, die sie erzählen.
»Es ging um all das, und darunter ging es sicher noch um etwas ganz anderes.«
Judith Hermann reduziert ihre Geschichten auf die nötigsten Elemente, die sie dem Leser in den durchschnittlich zehn bis zwölf Seiten langen Erzählungen offeriert. Auf die Vergangenheit wird nur sehr kurz und szenenhaft eingegangen. Im Mittelpunkt steht die Momentaufnahme, auf die sich der Leser konzentrieren soll. Alle Erzählungen enden dabei offen. Sie enden mit Sätzen, die einen Ausblick auf einen Neuanfang andeuten, der oft absolut unkonkret ist: »Ich konnte nur neben ihm auf der schwankenden Brücke stehen und über den Fluss sehen, das schwarze Wasser absuchen, abtasten, nach einem unwahrscheinlichen Funken, einer Möglichkeit.« Oder sie entlassen den Leser mit dem Eindruck, dass ein Mehrwert sowohl für ihn als auch für den Protagonisten fraglich ist, wie in Träume: Teresa sucht jahrelang den Psychologen ihrer Freundin auf, ohne dass er ihr aufmerksam zuhört. Sie schließt die Erzählung mit dem Gedanken: »Sie könnte mit Doktor Gupta darüber sprechen, er würde zunächst lange schweigen, dann vermutlich sagen, dass das hinnehmbar sei. Dass man damit doch aber leben kann.« So erzählt Teresa, dass sie zwar jahrelang in der Therapie war und mittlerweile einschätzen kann, was ihr Psychologe zu ihren Problemen, denen er nicht lauscht, sagt. Ob eine Standard-Antwort auf ein geäußertes Anliegen die Lösung ist und die Menschen in ihrer Entwicklung vorantreibt, lässt die Autorin hierbei für alle Beteiligten offen.
Judith Hermanns Sprachstil ist so schlicht und bildhaft, dass ihm ein poetischer Klang zuteil wird: »Scheint so, denkt Maude, als wäre Greta in ihrer Erinnerung angekommen. In ihrer Vergangenheit. Oder als werfe sie ihre Erinnerungen ab? Wie Blätter, wie eine Haut.« In jeder Geschichte schwingt ein Element mit, das einen Symbolgehalt suggeriert. Durch Unbestimmtheit, Andeutungen und Auslassungen ist es jedoch dem Leser selbst überlassen, ob er in Motive wie Kohlen, Papierflieger, Mond oder Fotografien mehr hineinliest, als die Autorin ihm vorgibt. Ihre Psychogramme sind insofern gelungen, als dass sie zunächst oberflächlich gestaltet sind, durch den monotonen, nachklingenden Stil allerdings eine Tiefgründigkeit verliehen bekommen, die der Leser fast beiläufig und doch sehr intensiv verspürt.
»Vielleicht ist das alles gewesen.«
Die gegenwärtigen Augenblicke, die Judith Hermann schafft, wirken auf den Leser wie auf die Figur selbst: Er wird kurz ein Teil davon, kommt mit einzelnen Lebensabschnitten und Erfahrungen in Berührung, lässt sie sich durch den Kopf gehen und geht über zum nächsten Lebensmoment, beziehungsweise zur nächsten Erzählung. Dabei bleiben die einzelnen Erzählungen in der Regel nicht in Erinnerung, sondern sind so flüchtig wie das Erzählte selbst. Mit dieser Flüchtigkeit geht eine gewisse Irrelevanz einher, da die Namen und individuellen Gedanken nur für einige Sekunden präsent und spätestens beim Schließen des Buches verflogen sind.
Die Autorin demonstriert mit ihren Erzählungen, dass alltägliche Begegnungen genau das sind: alltäglich. Im Grunde sind sowohl die Personen als auch die geschilderten Erlebnisse austauschbar. Sie versetzen kurzzeitig in einen Zustand des Erinnerns, Grübelns und Verweilens, und geraten dann wieder in Vergessenheit – so wie ihre Erzählungen. Wie die Protagonistin Teresa bereits sagt: »Es ist hinnehmbar. Man kann damit leben.« Gerade durch die Oberflächlichkeit und den kurzen Abriss der einzelnen Figurenleben, gemischt mit dem poetisch-melancholischen Stil, berührt Judith Hermann mit Lettipark kurz, aber intensiv und lässt den Leser die geschaffenen Leerräume nahezu unbewusst füllen.