Als lyrische Grenzgängerin beschreibt Uljana Wolf in ihrem Mini-Zyklus Aufwachraum die Bewusstseinsbarriere zwischen Traumschlaf und Wachen – und erkundet dabei den ,poetischen Sprachraum‘ zeitgenössischer Dichtung. Die Aufwachraum-Gedichte aus Wolfs Debütband kochanie ich habe brot gekauft (2005, kookbooks) schildern im Rückblick auf das Erwachen nach einer Operation zwei gegensätzliche Empfindungen der gleichen existentiellen Aufwacherfahrung. In zweimal sieben freien und ungereimten Abschnitten nimmt Wolf ihre Leser mit in die Tiefen des halbbewussten Narkoseschlafs.
Von Alena Diedrich
aufwachraum I
ach wär ich nur im aufwachraum geblieben
traumverloren tropfgebunden unter weißenlaken neben andern die sich auch nicht fanden
eine herde schafe nah am schlaf noch nah angott und trost da waren große schwesterntiere
unsre hirten die sich samten beugten über uns –und stellten wir einander vor das zahlenrätsel
mensch: von eins bis zehn auf einer skala sagwie groß ist dein schmerz? – und wäre keine
grenze da in sicht die uns erschließen könnteaus der tiefe wieder aus dem postnarkotischen
geschniefe – blieben wir ganz nah bei diesemich von andern schafen kaum zu unterscheiden
die hier weiden neben sich im aufwachraum
Über die ,Rückkehr‘ in den Aufwachraum aus dem unbewussten Traumschlaf – ähnlich der Rückkehr aus der Versenkung in die dichterische Arbeit – spricht der lyrische Patient im Konjunktiv, doch in beiden Fällen aus derselben seufzend-rückblickenden Perspektive: »Ach wär ich nur…« In aufwachraum I berichtet der lyrische Schläfer/die lyrische Schläferin von einer als positiv erinnerten Traumidylle. »Nah am Schlaf« ist er oder sie zwar von sich bzw. seinem wachen Bewusstsein getrennt, fühlt sich aber dennoch in einer solidarischen Ganzheit weiterer Schläfer geborgen »neben andern die sich auch nicht fanden«. In einer Herde von »weiden[den]« »schafen«, die von »große[n] schwesterntiere[n]« umsorgt werden, entgrenzt sich das träumende Ich ins Kollektiv.
Die Identität des Einzelnen geht dabei allerdings nicht vollständig verloren. Durch die Fremdbetrachtung durch andere, »die uns erschließen«, oder durch das jeweils wache Alter-Ego, das seine schlafende Ich-Entsprechung von außen betrachtet, bleibt eine Grenze zwischen den Schläfern bestehen, die das Ich stationär in die Gruppe einbettet. Die friedliche Monotonie der gleichförmig gestalteten Zeilen wird nur durch die einzige harte Kadenz im gesamten Gedicht unterbrochen, die die – in beschwerten Hebungen lesbare und somit nachdrücklich artikulierte – Frage nach dem Schmerzempfinden einleitet: »sag / wie groß ist dein schmerz?« Das Fragezeichen ist – neben fünf Gedankenstrichen – das einzige Satzzeichen der beiden Paargedichte. Ansonsten wird der Sprach- und Gedankenfluss nicht durch Interpunktion gestört.
aufwachraum II ist die dunkle Entsprechung der Sch(l)äferidylle: Das lyrische Ich findet sich in seinem Krankenbett gestrandet wie im »letzten hafen«. Unausweichlich durchmisst es im Aufwachen das »sanitäre fegewasser« einer Höllenkreis-Reise wie Charons Passagier auf seiner Fahrt über den Styx. Die Aufwachraum-Erfahrung führt den Sprecher an die Grenze zwischen Hypnos und Thanatos. Die in aufwachraum I erlebte Geborgenheit wird in aufwachraum II zu einer existentiell empfundenen Einsamkeit und individuellen Todesahnung, deren Gewissheit ebenfalls mit der Ein- oder Rückkehr in den Aufwachraum eingesetzt hat: »ach wär ich nie im Aufwachraum gewesen«. Die eigene Krankenbett-Barke scheint nur »neben andern Barken angebunden«, jeder Schläfer ist auf seine eigenen existenzerhaltenden Maßnahmen angewiesen, und nicht, wie in Aufwachraum I, dadurch mit anderen verbunden. Der Aufwachraum erscheint als Gerichtssaal eines unausweichlichen Strafgerichts.
Mundraum. Doppelraumaufwachraum II
ach wär ich nie im aufwachraum gewesen
taub gestrandet schwankend in der weißenbarke neben andern barken angebunden –
ja das ist der letzte hafen ist der klammeschlafkanal mit schwarzen schwestern die
als strafgericht am ufer stehn und dir mitstrengen fingerspritzen drohen: tropf und
teufel meine liebe können sie mich hörenund hören kannst du nichts nur diese stille
in den schleusen sanitäres fegewasser dasdich tropfenweise aus dem schlauch ernährt –
als unter deinem bett das meer mit raschenschlägen dich zurückraubt in den traum von
stern und knebel fern vom aufwachraum
Wolfs aufwachraum-Texte gehören unverkennbar zusammen: Sie weisen fast identisch lange trochäisch alternierende Zeilen auf, die zwischen 9 und 13 Silben messen. In der Silbenanzahl im Durchschnitt etwas kürzer gestaltet sind die Zeilen in aufwachraum II, was auch ein Blick auf die Typographie verrät. Die reihenden Gedankenketten, die der oder die Erwachende knüpft, sind an Anfang und Ende parallel gebaut und lassen die Leser ähnlich in die Gedichte bzw. den Narkosetraum ein- und auch wieder daraus aussteigen.
Die lautliche Organisation der Gedichte entspricht der assoziativen Geräuschwahrnehmung im luziden Dämmerzustand. Vor allem die Akustik – »können sie mich hören«, »taub gestrandet« – ist daher ein zentrales Moment der Texte, das sich auch in deren phonetischer Gestaltung wiederfindet. Assonanzen – z.B. »Gott und Trost«, »Stern und Knebel« – erzeugen monotone, meditative Ruhe-Etappen, ebenso wie die vereinzelten Binnenreime (»tiefe/geschniefe«, »traum/aufwachraum«) oder Alliterationen (»tropf und teufel«).
Wolfs aufwachraum ist nichts weniger als der lyrische Gedichtraum selbst und das Dichten ein Bewusstseinsvorgang, der dem unbewussten Traum ähnlich ist. Das Lesen wiederum geschieht im Wachzustand – doch es versetzt den Leser in einen anderen Ich-Zustand. Denn jede Grenzüberschreitung verändert den eigenen Erfahrungshorizont und ist immer irreversibel. So wie im Aufwachraum ein anderes Ich aufwacht als das, das eingeschlafen war, kann die Rezeption von Gedichten den Leser verändern und ihn in einen neuen, geweiteten ,Bewusstseinsraum‘ entlassen. So führt die Fahrt durch den »Schlafkanal« und die Schleusen ins »Meer« – in die Weite.