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Nie mehr zurück

Triggerwarnung: In diesem Text werden Depressionen und Suizid erwähnt. Wenn du psychische Probleme oder Suizidgedanken hast, kannst du Unterstützung beim Sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt Göttingen, beim Wegweiser der Gesundheitsregion Göttingen, bei der Universitätsmedizin Göttingen oder beim Asklepios Fachklinikum finden. 

Wir erinnern an unseren Freund und Kommilitonen Stefan Walfort, der ein talentierter Kulturjournalist, engagierter Mahner und großzügiger Freund war. Der Campus, die Bibliotheken und die Stadt sind ohne ihn spürbar leerer. Wir werden die Gespräche, Spaziergänge und Theaterbesuche mit ihm vermissen.

Von Marek, Nikolai, Oke, Zenar

Stefan hatte viele Talente und zwei große Leidenschaften: Literatur und Theater. Beides lief zusammen in seinem Schaffen als Autor kulturjournalistischer Texte, das in den letzten Monaten immer mehr an Fahrt gewann. Stefans Artikel waren sorgfältig recherchiert, die Wortwahl präzise und sein Anliegen deutlich: Es ging ihm darum, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten offenzulegen.

Der Fokus seines Schreibens lag auf politischen Themen, er besaß wenig Interesse an Unpolitischem und Trivialem. Die Schwerpunkte seiner Arbeit waren Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Nicht selten informierte der aufmerksame und kritische Umgang mit ihnen auch seine zahlreichen Literatur- und Theaterkritiken. Er mied weder kognitive Dissonanzen noch Konfrontationen und schrieb beharrlich an seinen Artikeln und wissenschaftlichen Arbeiten.

Aufmerksam benannte er Ungerechtigkeiten und übte Kritik an antisemitischen Kontinuitäten, der neoliberalen Marktwirtschaft, dem systemischen Rassismus und insbesondere auch der Stadt, in der er lebte: Er begleitete und kommentierte die Göttinger Stadtpolitik, vor allem die Gleichgültigkeit gegenüber der Wohnsituation marginalisierter Gruppen, unermüdlich. Im Angesicht dieser Ungerechtigkeiten erlaubte er es sich nie, Gemütlichkeit oder Zufriedenheit zu spüren.

Diejenigen, die sich mit Stefan länger unterhalten haben, werden seinen intensiven und manchmal entwaffnenden Blick nicht vergessen. In Gesprächen ließ er sich selten aus der Ruhe bringen und versuchte, das Gespräch auf ein analytisches Niveau zu heben. Er verstand es, seine Sichtweise eloquent und mit einer bewundernswerten Klarheit auf den Punkt zu bringen. Diese Fähigkeit spiegelte sich auch in seinen ausführlichen und anregenden Anmerkungen, die er zu wissenschaftlichen und journalistischen Arbeiten anfertigte. Er verpackte seine Kritik dabei immer ausgesprochen sensibel. Im Anschluss an journalistische Arbeiten oder private Gespräche empfahl er nicht selten noch Wochen später Bücher und Veranstaltungen.

 

In der Zeit vor dem ersten Lockdown war Stefan mit einer beneidenswerten Ausdauer an den Arbeitsplätzen der Universität anzutreffen. Auch bei Ringvorlesungen und Diskussionsabenden war er meist als treuer und engagierter Teilnehmer anwesend. Mit Stefan konnte man abends ins Theater gehen, Hochkultur erleben, und sich danach mit Pommes und Dosenbier am Wilhelmsplatz darüber unterhalten, wie gelungen oder misslungen die Inszenierung war.

Bedingt durch die Schließung der Universität begann Stefan in den letzten Monaten immer mehr, kilometerlange Spaziergänge durch Göttingen und die Umgebung zu machen. Auf diesen Wanderungen entdeckte er seine Begeisterung für Vögel, die ihm in den schweren Monaten des Lockdowns ein Gefühl von Teilhabe am Leben bewahren konnten. In seinem großen Rucksack trug er dabei immer zahlreiche Bücher mit sich herum, aus denen er in Gesprächen häufig passende Zitate hinzuziehen konnte.

Abgesehen von diesen positiven Momenten war Stefan zunehmend ernüchtert von den Arbeitsbedingungen im Journalismus. Zudem hatte er mehr und mehr das Gefühl, dass seine Artikel ungelesen verpufften. Mit der Abriegelung des Hochhauskomplexes, der Groner Landstraße 9, in der er wohnte, manifestierte sich für ihn das Gefühl, eingesperrt zu sein und gesellschaftlich keine Rolle zu spielen. Er litt darunter, isoliert zu werden. Dieses Gefühl und die Enttäuschung über die Umsetzung der Maßnahmen, die viele Menschen in prekären Wohnsituationen empfindlich traf, artikulierte er in seinen Artikeln, die in der Jungle World und der Konkret erschienen. In seinen letzten Wochen wuchs in Stefan immer mehr der Wunsch, auszuwandern und irgendwo anders seine Ruhe zu suchen. Er entschied sich für einen anderen Weg. Wir lassen diese Erinnerung an ihn mit den Worten seiner Lieblingsband …But Alive ausklingen:

Ich komme nie mehr zurück

Ganz bestimmt nicht mehr zurück

Lebt euer Leben ohne mich

Viel Spaß, das war’s – auf Wiedersehen

Ich komme nie mehr zurück

Nie mehr zurück

Du fehlst uns und dieser Stadt sehr.

—————————————

Eine Auswahl von Stefans Artikeln, die nicht auf Litlog erschienen sind. Bitte fügt in den Kommentaren gerne noch weitere Links ein.

 

Rezensionen

Dranbleiben: Nach 438 Tagen NSU-Prozess zieht das Recherchekollektiv NSU-Watch Bilanz (Der Freitag).

Im Möglichkeitsraum: Ein Sammelband beschreibt das Verhältnis von Fritz Bauer zu den 68ern (Der Freitag).

Hätte auch schiefgehen können: Eine neue Biografie über Josephine Baker erzählt von der Tänzerin – und der Kämpferin gegen Rassismus (Neues Deutschland).

Heiligenverehrung der Germanistik. Buchrezension des Sammelbandes ›Emotionen und Antisemitismus‹ (Belltower.News).

Es fehlt noch die Rezension eines Sachbuches, die Stefan für die Sendung »Gutenbergs Welt« im WDR 3 geschrieben und eingesprochen hat.

 

Abriegelung der Groner Landstraße 9

Erst Quarantäne, dann Repressionen (Jungle World).

Hinter Gittern: Als die Stadt Göttingen einen Hochhauskomplex an der Groner Landstraße 9 abriegelte, war das Virus nur der vorgeschobene Grund (Konkret).

 

Veranstaltungsberichte

1968 als Erfolgsgeschichte (Tagessatz).

 

Print

Der Göttinger Dichter Moritz Jahn – Nach 1945 unbehelligt. In: Hingeschaut! Antifaschistisches Magazin. No. 2, Mai 2021. Hrsg: ABAG: Antifaschistisches Bildungszentrum und Archiv Göttingen.

 

Hier findet ihr Stefans Litlog-Artikel und hier eine Liste mit den Sammelrezensionen, für die Stefan Beiträge verfasst hat:

Früher war Vieles schlechter. Über Mechthild Grossmanns und Dorothea Wagners Besser spät als nie. Eine Liebeserklärung an das Alter in »Der Litlog-Geschenkeguide«

Unterm Teppich. Über Kolja Mensings Fels in »Das Indiebook im Jahre 2019«

Von Heilslehren und Besseresser*innen. Über Mira Landwehrs Vier Beine gut, zwei Beine schlecht in »IndieBookDay 2020«



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 30. Juni 2021
 Kategorie: Misc.
 Schlagworte:
 Bilder: Privat
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 3 Kommentare
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3 Kommentare
Kommentare
 Lisa Neumann
 30. Juni 2021, 12:50 Uhr

Lieber Stefan,
ich weiß, dass du das hier nicht mehr lesen kannst und das macht mich unglaublich traurig… ich kannte dich nur vom Sehen aus der Seminarbibliothek und Enten-Füttern am Kiessee..
Ich wollte nur sagen, dass es mir sehr, sehr leidtut…
Und zugleich macht es mich unglaublich wütend, dass die Politik uns Studies im Lockdown immer mehr zu vergessen scheint. Auch bei uns gibt es genug junge Menschen, die mit der Situation nicht gut klarkommen. Die Hilfe brauchen, aber sich isolieren und nicht sprechen. Und sie werden einfach alleingelassen…
Es tut mir unglaublich leid,
Lisa

 Hades
 30. Juni 2021, 14:56 Uhr

Danke für euren in jeder Hinsicht treffenden Nachruf!
Ein Text von Stefan ist mir noch eingefallen:
https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2020/08/Walfort-Gronerstr.pdf

 Caro
 23. August 2021, 10:29 Uhr

Liebe Autoren, danke für den treffenden Artikel. Getroffen. Stefan. Getroffen auch die Bibliothek des Seminars für Deutsche Philologie,
die ihren präsenten Leser vermisst.
Mögen sich noch viele auch in Zukunft an ihn erinnern!
Caro

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