Beim exklusiven Besuch in Göttingen spricht Orhan Pamuk über zwei Neuerscheinungen, die sich um seine Heimatstadt Istanbul drehen. An diesem Abend steht er eher als Fotograph im Mittelpunkt denn als Schriftsteller. Doch das Gespräch versandet im seichten Geplauder.
Von Juliane Imbusch
Wahrscheinlich erwartet man Großes von einer Lesung eines Literatur-Nobelpreisträgers – vor allem, wenn er 2018 nur ein einziges Mal auf einer öffentlichen Veranstaltung in Deutschland spricht. Aber was ist denn das Große, das man von einem Orhan Pamuk erwartet? Vielleicht erwartet man von einem, der Istanbul so gut kennt, feine Beobachtungen über die Entwicklung der Stadt. Vielleicht erwartet man, dass er ihre schönen Seiten, aber auch ihre hässlichen Seiten beschreibt. Und vielleicht erwartet man eine Kritik gegenwärtiger Entwicklungen wie der Tendenz zu Mega-Bauprojekten, die unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen aus dem Boden gestampft werden. Eine etwas kühnere Zuhörerin könnte sogar erwarten, dass er sich scharf und mutig zur aktuellen politischen Situation in der Türkei äußert, zum Beispiel zum Thema Pressefreiheit – wie die im Exil lebende Schriftstellerin Aslı Erdoğan auf der Frankfurter Buchmesse.
Die Lesung Orhan Pamuks zum Göttinger Literaturherbst im Deutschen Theater am 14. Oktober jedenfalls hat keine dieser Erwartungen erfüllt. Das Gespräch mit Jan Ehlert, übersetzt von Recai Hallaç, erinnerte an eine Promotion-Aktion für seine zwei Neuerscheinungen und versandete in seichtem Geplauder über die persönlichen Eigenheiten des Autors. Pamuk sprach über die Entstehung des Bildbandes Balkon und über die Probleme beim Layout der älteren Version seines Buches Istanbul: Erinnerungen an eine Stadt, bei der er sich dafür entschieden hatte, keine Bildunterschriften zu verwenden. Schließlich sinnierte er über seine Angewohnheit, immer viele Fotos zu schießen und einiges mehr. Es ist natürlich angenehm, jemandem zuzuhören, der so charmant über seine etwas amateurhaften Fotographien redet und der trotz internationaler Berühmtheit so gelassen und offen über seine Arbeitsweise als Schriftsteller spricht.
Das alte Istanbul (1950er bis 70er)
Dabei reißt Pamuk in der Besprechung von Istanbul: Erinnerungen und Bilder aus einer Stadt durchaus auch philosophische Fragestellungen an, etwa, wie stark das Schönheitsempfinden beim Betrachten einer Fotographie mit den eigenen Erfahrungen und Erinnerungen zusammenhängt. Er zitiert Ara Güler, dessen Fotographien Pamuk für sein Buch verwendet hat. Er habe ihn gefragt, ob er die Bilder nicht eigentlich nur schön finde, weil sie ihn an seine eigene Kindheit erinnerten. Kann man das Schönheitsempfinden also vielleicht gar nicht von der Erinnerung lösen?
Ein weiteres Thema ist das Gefühl der inneren Zerrissenheit der Menschen in Istanbul: einerseits die Sehnsucht nach einem Aufbruch, andererseits ein »Sich-nicht-lösen-Können« von der alten Kultur. Was außerdem nicht fehlen kann in einem Gespräch über Pamuks Istanbul-Buch, ist der Schlüsselbegriff hüzün. Das Wort kommt aus dem Arabischen und bedeutet Melancholie. Pamuk meint, das Gefühl im Istanbul seiner Kindheit und Jugend, aber auch in den Erzählungen anderer großer türkischer Schriftsteller zu finden. Der Autor begründet die Neuauflage von Istanbul mit einer erweiterten Bebilderung damit, dass hüzün auf einer weiteren Ebene ausgedrückt wird – also nicht nur auf der Textebene, sondern auch auf der Bildebene.
Ein Blick auf die heutige Stadt
Balkon versammelt bildliche Momentaufnahmen der heutigen Stadt. Die Fotos, die Pamuk vom Balkon aus aufgenommen hat, zeigen den Blick auf den Bosporus, Schiffe, Vögel und die Stadtsilhouette. Dabei sagt er selbst, er wisse gar nicht, warum er sie eigentlich gemacht habe: Sie zeigen die Zufälligkeit des Ausblicks und vielleicht auch die Faszination, die den Autor beim Ausprobieren der neuen Kamera gepackt hat. Im Fotoband Balkon wechselt Pamuk also das Medium und zeigt die Stadt aus einer scheinbar naiv-verklärenden Perspektive. Aber es wirkt auch ein wenig wie das Recycling von Nebenprodukten aus einem anderen Schaffensprozess (denn Pamuk machte die Fotographien, während er beim Schreiben nicht recht vorankam). Der im Steidl Verlag erschiene Prachtband wird wohl eher ein Sammlerstück bleiben.
Obwohl Pamuk einige interessante Details zum alten und zum neuen Istanbul-Buch hervorholt, bleibt doch der Stoff des Gespräches meist oberflächlich und beinahe banal. Es kommt wenig Gelegenheit auf, Unbequemes, Kritisches oder gar Politisches zu diskutieren.
Dabei hat Pamuk in seinem Buch Diese Fremdheit in mir (2014) eindrücklich bewiesen, wie feinsinnig man die Geschichte der Stadt auch erzählen kann: Aus den Augen eines Boza-Verkäufers, der von den 70er Jahren bis heute die Veränderungen Istanbuls mitbekommt, vom Leben in den Gecekondus bis hin zur neoliberalen Umgestaltung der Stadt. Leider ist von abenteuerlichen Reisen durch politische Wirren und tiefgreifende Veränderungen an diesem Abend kaum etwas zu spüren.
Nun ja, vielleicht hat es die enttäuschte Besucherin aber auch mit einem bekannten Pamuk-Phänomen zu tun gehabt, nämlich mit der großen Vielfalt seines Werkes. Trotz der seichten Lesung zum Göttinger Literaturherbst: Pamuk zeigt sich als ein Autor, der souverän und gelassen zwischen verschiedenen Formen und Medien wechselt – ohne Scheu, mit Erwartungen zu brechen.