Das Literarische Zentrum füllt das Göttinger Rathaus: Im Rahmen der Climate Care-Reihe diskutieren Bernd Ulrich von der Zeit und Extinction-Rebellion-Aktivistin Sina Kaufmann die politische Verdrängungskultur Deutschlands sowie die Gestalt von Demokratie und Freiheit.
Von Nicole Morasch
Die Welt ist verrückt geworden! Oder haben wir als Gesellschaft ein verrücktes Spiel gespielt – unter dem Deckmantel der Normalität? Mit einem Ergebnis, das nicht nur in puncto Klimas extrem ist? Das Literarische Zentrum lädt zum Gespräch ein. In der Reihe Climate Care treffen sich Akteur*innen mit klimapolitischen Anliegen, um zu diskutieren, zu streiten und Impulse zu geben. Am 16. Januar waren dafür zwei Autor*innen zu Gast: Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der Zeit, und Sina Kamala Kaufmann, politische Aktivistin bei Extinction Rebellion, riefen zum Umdenken und Andershandeln auf. Moderiert hat der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering, der zurzeit zu ökologischen Konzepten in der Literatur forscht.
Hochgradig politischMit diesen Diskutant*innen treffen zwei Sichtweisen aufeinander: Das linksliberale Bürgertum mit Vertrauen in die repräsentative Demokratie steht einem radikalen Aktivismus gegenüber, der Systemstrukturen um direkte und deliberative Demokratieprozesse erweitern möchte. Beides lässt sich bereits an den Büchern erkennen, die die Bühnengäste dabeihaben. Ulrich präsentiert in Alles wird anders seine Analyse zur politischen Kultur- und Gesellschaftsentwicklung Deutschlands und fragt sich, wie man zu einer »zugleich massiv verbrauchenden und verdrängenden Gesellschaft wird«.
Ulrich will kein erneutes Untergangsszenario beschwören, sondern das 21. Jahrhundert mit einer dringlichen Fragestellung konfrontieren: Wie lösen wir das Klimaproblem? Kritisch beleuchtet er den jahrzehntelang fortgeführten Normalismus im Politikbetrieb, der der Funktionsweise des Klimawandels diametral gegenüberstehe. In seinen Blick gerät die Politik der CDU, deren Mantra »Weiter so« Maß und Mitte verspreche und dabei die tatsächlichen CO²-Emissionen ignoriere. Kritisch betrachtet wird auch der Medienbetrieb, der je nach Positions- und Themenskala die gemäßigte Position präferiere und extremen Meinungen ausweiche. Dabei wird nicht hinterfragt, ob die extreme Meinung nicht weniger verrückt als die normale ist. Und laut Ulrich leben die Bürger*innen in einer Verdrängungskultur, in einer Art wissenden Ignoranz. Eine Ignoranz, die einer Illusion gleiche, deren Aufrechterhaltung immer mehr Energie raube.
Ist eine liberale Demokratie ohne Ausbeutung möglich?Ulrich wirft den Freiheitsbegriff in den Raum: ein geschichtsträchtiges, politisches, umkämpftes Wort. Freiheit – was bedeutet das? Wie hängt sie mit dem Klima zusammen? Dem alten Argumentationsmuster, dass die individuelle Freiheit massiv durch die Klimapolitik beschnitten werde, begegnet Ulrich mit einem positiven Freiheitsbegriff. Erst durch eine existenzielle Sicherung der Natur können Individuen frei handeln. Der Klimawandel stelle eine massive Beschneidung von Zukunftsoptionen dar.
Auch der Demokratiebegriff war nie eindeutig, sein Bedeutungsgehalt variiert. Kaufmann steht für eine partizipative Form, mit direktdemokratischen Anteilen, deliberativ gestaltet. Stets mit der Frage verknüpft, inwieweit Gesellschaft gestaltet werden solle. Der Verzicht, der in aller Munde sei und angeblich von so vielen gefürchtet werde, gäbe auch Raum für Neues. Für Schönes? Statt die Beschneidung von Freiheiten auszudiskutieren, könnten andere Freiheiten wichtig werden: Keine Bullshit-Jobs mehr, die Ausübung von sinnerfüllten Tätigkeiten, eine Transformation mit Gewinn.
Eine alte Debatte bahnt sich an: Kapitalismuskritik und die Kritik an der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche. Alles habe einen Marktwert. Doch was passiert, wenn unsere Gesellschaft nicht mehr auf dem Wachstumsparadigma fußt? Wenn das ständige Mehr, die unerbittliche Fokussierung auf das Nächste, uns zurückwirft in unsere gemeinschaftlichen Bindungen und uns fragen lässt: Kommen wir eigentlich miteinander zurecht? Und was brauchen wir, um uns zu vertragen?
Welche Art von Gemeinschaft wollen wir?Diese Fragen berühren uns emotional. Die Frage nach unserem Verhältnis zu Mitmenschen, zu allen Lebewesen, die mit uns den Planeten bewohnen und bewohnbar machen. Die ökologische Bewegung Extinction Rebellion wurde aus dem Willen heraus gegründet, auf das Artensterben und nötige Maßnahmen dagegen aufmerksam zu machen. Ohne klimapolitische
Das Literarische Zentrum richtet seit 2000 verschiedene Veranstaltungen zu Literatur, Kultur und Wissenschaft aus. Neben Lesungen im eigenen Haus gehören die Programme »Literatur macht Schule« und »Weltenschreiber« und das jährliche Poetree-Lyrikfestival zum Tätigkeitsbereich. Außerdem ist das Literarische Zentrum am Göttinger Literaturherbst und am Stadtlabor beteiligt.
Solchen Fragen und Anklagen wohnt eine kraftvolle Intensität inne, die sich auf der Bühne entfalten konnten. Neben Gemeinsamkeiten gab es genug spannende Reibungsfläche. Neben Sympathie zu Positionen wohldosierte Antipathie. Und dazwischen ein Moderator, der die Debatte mit klugen, jedoch deplatziert wirkenden Einschüben gestalten wollte. Es war ein Abend voller Impulse: Davon zeugte das Raunen im Publikum, die vielen Nachfragen – und die kleinen Grüppchen von Leuten, die auch nach Veranstaltungsende nicht aufhörten zu diskutieren. Einige von ihnen hielten dabei die Flyer der Extinction Rebellion in der Hand.