Lukas Bärfuss’ Adaption des mittelalterlichen Versromans Parzival wird am DT in Göttingen als zeitlose Tragikomödie auf die Bühne gebracht: Hier tragen Ritter Anzüge und feiern am Artushof wilde Partys. Eine amüsante und tiefgründige Inszenierung!
Von Lena Lang
Parzival, das Stationendrama des Schweizer Gegenwartsdramatikers Lukas Bärfuss wurde 2010 am Staatstheater Hannover uraufgeführt. Die Inszenierung von Brit Bartkowiak am DT in Göttingen weist einige Parallelen zur Uraufführung auf, braucht den Vergleich aber nicht zu scheuen: Typisch erscheint die weibliche Besetzung des Titelhelden und die spürbare Nähe zum Originaltext. Lukas Bärfuss hat aus dem umfangreichen Versepos von Wolfram von Eschenbach die Sinnsuche Parzivals als Handlungsstrang herausgeschält. Die Inszenierung orientiert sich an der vorgegebenen Chronologie und verfolgt die Entwicklung Parzivals vom Narren bis hin zum Gralskönig.
Der Brückenschlag zwischen dem mittelalterlichen Vorbild mit seiner Welt der Könige, Ritter und Hexen und dem Spiel in der Gegenwart funktioniert in Göttingen fantastisch. Die Figuren sind modern gekleidet (Kostüm: Carolin Schogs), sprechen unsere Sprache und provozieren die Frage nach der Aktualität des Stoffs, ohne eine eindeutige Antwort zu geben: Was bedeutet Rittertum heute?
Die Inszenierung vermeidet die Verortung in einem bestimmten Milieu, wodurch sie ebenso zeitlos wie hoch aktuell erscheint. Der Parzival-Stoff wird zum Musterbeispiel der Entwicklung eines Menschen zum mündigen Individuum. Das hört sich nach Idealen der Aufklärung an. Glücklicherweise wird die Geschichte vom weltfremden Jungen Parzival, der unbedingt Ritter werden möchte, mit wenig moralischem Unterton, sondern mit unheimlich komischen Momenten und grotesken Verzerrungen umgesetzt – das bereitet einen gleichsam spaßigen wie rührenden Abend. Mit intelligentem Sprachwitz wird der tradierte Stoff selbstreflexiv verhandelt: Hemd und Goldkettchen werden da schon einmal als ritterliches »Kettenhemd« ausgegeben.
Vanessa Czapla brilliert in der Rolle des Parzival, der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte bleibt. Trotz Dauerpräsenz auf der Bühne spielt sie mit einer Leichtigkeit und Überzeugungskraft, die den Zuschauer mitreißt und ihm Einblick in die Gefühlswelt des Protagonisten gewährt. Parzivals Reifungsprozess bleibt so über die einzelnen Stationen hinweg nachvollziehbar.
Vanessa Czapla als Parzival, Elisabeth Hoppe als Braut.
Bekanntlich beginnt die Entwicklung Parzivals bei »Null«: Er ist ein unbeschriebenes Blatt. Nach dem Tod des ritterlichen Vaters wird er durch seine Mutter Herzeloyde (Gaby Dey) von der gefährlichen Welt abgeschottet und wächst fernab der Zivilisation auf. Erst durch das Singen der Vögel wird er darauf aufmerksam, dass es eine Ferne jenseits seines kleinen überschaubaren Horizonts gibt. Als er im Wald zufällig auf zwei Ritter trifft, fasst er den Entschluss, ebenfalls Ritter zu werden, ohne überhaupt eine Idee vom Rittertum zu haben. Seine Mutter gibt ihm ein paar Verhaltensregeln mit auf den Weg, die der im Laissez-Faire-Stil erzogene Knabe so gar nicht recht verstehen mag… (Clint Eastwood hätte sich für seinen tragischen Helden, den US-Scharfschützen Chris Kyle im Hollywoodfilm American Sniper , ruhig ein Scheibchen von Parzival abschneiden können.)
Mama!?Vom Mutterschoß unsanft in die Welt geworfen – in der Inszenierung setzt Herzeloyde dem Sohn, selbstredend, ihr Höschen als Narrenkappe auf den Kopf – beginnt der Irrweg Parzivals. Missverständnisse sind vorprogrammiert. Er versteht grundsätzlich alle Verhaltensregeln falsch, hinterfragt damit aber auch festgefahrene Konzepte und Konventionen. Die Welt wird auf den Kopf gestellt und mit dem Jungen neu gedacht: Was bedeuten abstrakte Begriffe wie Liebe und Tod? Und was ist das »Ich« eigentlich? Die enge Gratwanderung zwischen Witz und notwendiger Ernsthaftigkeit gelingt fast immer, nur wenn Vulgärhumor zu sehr ausgereizt wird, wirkt das platt, vor allem weil die triebhafte Seite Parzivals zu Beginn bereits deutlich herausgearbeitet wird. Schon bei der Mutter in der Einöde tötet er Hirsche zum Zeitvertreib und guckt ihnen beim Sterben zu.
Und so zieht Parzival in die Welt, stiehlt, tötet, betrügt und hält sich strikt an die Handlungsanweisungen seiner Lehrmeister, ohne diese situationsabhängig zu überdenken. Es kommt zum berühmten Frageversäumnis auf der Gralsburg: Von Gurnemanz, dem alten weisen Mann (Gaby Dey, diesmal mit langem Bart und Eule auf dem Arm) hat Parzival gelernt, dass Ritter keine Fragen stellen. Im Satin-Pyjama klagt der Gralskönig (Gerd Zinck) ihm sein Leid vom »faulenden Unterleib«. Parzival könnte ihn und sein Reich mit einer einzigen Frage erlösen, aber: Ritter stellen eben keine Fragen. Eine zweite Chance zur Erlösung der Gralsgesellschaft und damit auch zur Erfüllung der Prophezeiung, nach der Parzival zum neuen Gralskönig werden soll, erhält der Junge erst, als er die Fähigkeit zur Empathie entwickelt hat. Bis dahin steht ihm eine Phase voller Angst und Schmerz bevor. Die Vergangenheit holt ihn ein und die Konsequenzen seiner Taten werden ihm bewusst, da bringt es nichts, sich zur Mutter zurückzuwünschen.
Blutige Schwerter im ZeichensystemHerzeloyde ist indes längst gestorben, was Parzival von einer Braut (Elisabeth Hoppe) erfährt, die ihren Bräutigam als Leiche hinter sich herzerrt. So lernt Parzival, was Liebe und Verlust ist. Tod und Gewalt sind im Stück allgegenwärtig. Das auf der Bühne immer präsente militärische Tarnnetz korreliert mit dieser Thematik. Ebenso genial wie einfach werden mit dem Bühnenbild von Nikolaus Frinke verschiedene Raumsituation geschaffen. Unter effektvoller Beleuchtung und mit »Transformationssound« (Musik: Thies Mynther) verformt sich das Tarnnetz stetig, ist mal Wald, mal Thronsaal, mal Burghof.
Überzeugend: Frederik Schmid, Benedikt Kauff, Gerd Zinck, Gaby Dey, Vanessa Czapla, Bardo Böhlefeld, Rebecca Klingenberg
Zur Darstellung von körperlicher Gewalt und Kampf greifen die Schauspieler zudem überzeugend auf das theatrale Zeichensystem zurück, indem sie Gestik und Requisiten reduziert und pointierend einsetzen. Die Hexe Cundrie schminkt sich selbst mit Lippenstift eine Blutfratze während sie (aus einiger Entfernung) halb tot geschlagen wird; Parzival muss nur einmal mit dem Schwert zucken, schon ist der Gegner erledigt.
Kampfkunst und direkte Handgreiflichkeiten gibt es hier nicht zu sehen, dafür kann sich der Zuschauer auf eine gelungene Darbietung hessischer Mundart sowie auf Schauspielkunst auf höchstem Niveau freuen.