In Alice schreibt Judith Hermann über den Tod, nüchtern und präzise, konzentriert und abstinent. Wie sehr sich diese kühle Sprache auch einer realen Abstinenz verdankt, darüber sprach die Autorin im Literarischen Zentrum.
von Julia Korrek
Man muss Judith Hermann nicht mögen. Ein altes neues Fräuleinwunder, die Stimme einer Generation. Eine schweigsame junge Frau, die als Projektionsfläche des Feuilletons dient. So wird Hermann in vielen Kritiken dargestellt. Wer das Glück hatte, eine Karte für die früh ausverkaufte Lesung im Literarischen Zentrum zu ergattern, der konnte sich selbst ein Bild machen.
Seit einigen Monaten tourt Hermann nun schon durch das Land und liest Abend für Abend Geschichten über den Tod. Man sieht ihrer abgegriffenen Hardcoverausgabe die lange Reise an und auch ihre Antworten während der Diskussion mit dem Literaturwissenschaftler Gerhard Kaiser wirken flüssig und routiniert. Hermann spricht leise, aber entschlossen freundlich. Man bekommt den Eindruck, sie sorgt sich etwas um das Publikum, das sie einen ganzen Abend mit dem Sterben konfrontiert.
Flickmuster aus AsphaltquadratenHermann liest aus ihrem neusten Buch Alice, das sich aus fünf lose miteinander verbundenen Geschichten zusammensetzt: Michel, Richard, Malte, Conrad und Raymond. Alle Erzählungen drehen sich um einen Mann, der stirbt. Mehr aber noch um Alice, die Abschied nehmen und weiter leben muss.
Hermann will ihre Figur schonen, scheut sich, sie emotional auszustellen, und ergeht sich stattdessen in detailreichen Beschreibungen der Außenwelt. Man hört den Ball auf dem Basketballplatz um die Ecke, sieht das Flickmuster aus Asphaltquadraten, über das Alice läuft, und spürt das Bonbonpapier in der Manteltasche. Hermanns Sprache nimmt einen mit in Alice‘ Welt – und lässt einen dort stehen, ohne Geschichte, ohne Fragen. Nur mit einer schweren und süßen Traurigkeit.
In kurzen, entschlackten Sätzen beschreibt Hermann eine Aneinanderkettung scheinbarer Nebensächlichkeiten, die zusammen einen Nachmittag ergeben. Weiter nichts. »Alles könnte voller Bedeutung, oder völlig ohne Bedeutung sein«, sagt Alice an einer Stelle. Hermann versetzt den Leser in einen ähnlichen Gefühlszustand.
In Alice erzählt Hermann nicht vordergründig eine Geschichte. Ihren Beschreibungen fehlt es an Zusammenhang und innerer Logik. Jeder Eindruck, den ihre Sprache einfängt, scheint der Erste zu sein, ungeordnet wiedergegeben und unsicher. Genau das macht den Sound ihrer Literatur aus. Ihre Stimme trägt über die kurzen Sätze und füllt die Stille des Literarischen Zentrums.
Abstinent leben, abstinent schreibenGelacht wird an diesem Abend auch: Im anschließenden Gespräch stellt der Literaturwissenschaftler Gerhard Kaiser (Göttingen) Analysen zu Hermanns Buch vor und konfrontiert die Schriftstellerin mit Interpretationsansätzen. Die meisten scheinen ihr neu zu sein. Kaisers sicherem Auftreten ist es zu verdanken, dass das Publikum dennoch, oder gerade deswegen, einen vergnüglichen Schlagabtausch erlebt.
Einziges Konsensthema an diesem Abend ist das Rauchen, oder vielmehr: seine Abwesenheit. Hermann führt lange aus, wie man ohne Zigaretten schreiben und leben kann. Ihre Sätze gerieten ohne Zigaretten kürzer, die ganze Sprache konzentrierter und weniger elegisch. Spätestens als sie verrät, dass an der Abstinenz sogar ein Romanversuch gescheitert sei, hat sie trotz aller Kühle ihre Zuschauer überzeugt: Man muss Judith Hermann einfach mögen.