Bodo Kirchhoff ist berüchtigt für seine pornographisch gewürzten Schundromane. Das Feuilleton hielt sich mit anerkennendem Lob stets bedeckt, wenn mal wieder »ein kitschiger und erotomaner Kirchhoff« auf dem Buchmarkt landete. So wurde die jüngste Auszeichnung Kirchhoffs mit dem Deutschen Buchpreis für seine Novelle Widerfahrnis für ihn selbst zur Widerfahrnis – »ein überraschendes Erlebnis, das einen umhaut.« Die Lesung des Preisträgers im Alten Rathaus Göttingen am 22. Oktober moderierte der ehemalige Leiter der NDR- Literaturredaktion Stephan Lohr.
Von Daniel Nagelstutz
Ein Wiedersehen mit Kirchhoff
Seit 2014 präsentiert der Göttinger Literaturherbst als erstes den frischgekürten Träger des Deutschen Buchpreises außerhalb der zeitgleich stattfindenden Frankfurter Buchmesse. Eine junge Tradition, welche die überregionale Bedeutung der Veranstaltung in der deutschen Literaturlandschaft unterstreicht. 1992 las Kirchhoff in der ersten Ausgabe des Göttinger Literaturherbstes aus seinem Roman Der Sandmann. Zum 25. Jubiläum des Literaturherbstes kehrte der Autor nun nach Göttingen zurück, um sein Gewinnerbuch Widerfahrnis vorzustellen.
Die Novelle
Die Protagonisten der Novelle sind Frührentner. Da ist Reither, der ins Voralpenland zieht, nachdem er seinen Kleinverlag samt Buchhandlung in der Großstadt an den Nagel gehängt hat, weil es heutzutage mehr Schreibende als Leser gibt. Und da ist Leonie Palm, die ihr Hutgeschäft schließen musste, weil es heutzutage keine Hutgesichter mehr gibt. Eines Abends klingelt es an Reithers Tür. Leonie Palm, gleichzeitig auch Leiterin des örtlichen Lesekreises, möchte ihren neuen Nachbarn kennenlernen. Er lässt sie draußen auf der Fußmatte stehen, bittet sie nicht herein, würde am liebsten die Tür gleich wieder schließen, denn in seiner Wohnung warten ein appulischer Rotwein, ein Roman und vor allem Ruhe. Als er sie schließlich hineinlässt, nimmt die Widerfahrnis ihren Lauf.
Ein paar aufgerauchte Zigaretten später beschließen Reither und Palm, auf einen nahegelegen Berg zu fahren, um den Sonnenaufgang im Alpenidyll zu sehen. Doch ihre Fahrt endet erst drei Tage später auf Sizilien. Während des gemeinsamen Roadtrips öffnen sich die Figuren, die kaum etwas voneinander wissen, vorsichtig füreinander. Die Protagonisten verschmelzen zu einem »Wir«, das von nun an im Plural handelt. Der Leser erfährt sukzessive die Einzelheiten ihrer leidgeprägten Vergangenheit, welche die Figuren gemeinsam aufarbeiten. Die Autofahrt: eine dreitägige Therapiesitzung. Und nicht nur die gerauchten Zigaretten knistern und lodern. Reither und Palm kommen sich mit jedem zurückgelegten Kilometer ein Stück weit näher.
Als sie auf Sizilien in einem Restaurant zu Abend essen, könnte die ungestörte Idylle zu zweit nicht schöner sein. Kurzerhand werden sie mit einem bettelnden Mädchen konfrontiert. Die Flüchtlingskrise gleitet damit in das Geschehen, durchbricht die Zweisamkeit, wird real und verlangt Handeln. Reihter und Palm entschließen sich, das unbegleitete Mädchen mit in ihre Pension in den verwinkelten Gassen Catanias zu nehmen. Die Balance zwischen den Protagonisten ändert sich, muss zugunsten eines Dritten neu justiert werden. Der Plural Reither und Palm erweitert sich um das Mädchen.
Die Lesung
Kirchhoff las Auszüge aus zwei Kapiteln seiner Novelle. Er spannte den Bogen vom Ausgangspunkt der Erzählung, die mit der gemeinsamen Zigarette in Reithers Wohnung beginnt, bis zum Antreffen des minderjährigen geflüchteten Mädchens. Lohr bat Kirchhoff zu erläutern, wie es zum Titel Widerfahrnis – ein Begriff, dessen Existenz selbst der Duden leugnet – kam. »Widerfahrnis, das ist ein überraschendes Erlebnis, das einen umhaut«, erklärte der Autor, der den Begriff vor wenigen Jahren zum ersten Mal im theologischen Zusammenhang und dann bei Heidegger gelesen hat. Seitdem war Kirchhoff auf der Suche nach einer passenden Geschichte für den Titel.
Dass Kirchhoff auch Schreibkurse leitet, wurde in seinen Ausführungen zum literarischen Entstehungsprozess der Novelle deutlich. Zunächst hatte er nichts weiter als den ungewöhnlichen Titel und die Idee, wie die Erzählung beginnen sollte. Eine persönliche Widerfahrnis ereignete sich für den Autoren im Sommer letzten Jahres, als er auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise mit dem Zug nach Italien fuhr. Er in Richtung Süden, ein Strom von Geflüchteten in die entgegengesetzte Richtung. Da war die Idee für die Novelle geboren. Kirchhoff macht den literarischen Prozess auch zum Thema seiner Novelle. Reither, der gescheiterte Verleger, und Palm, als Leiterin eines Lesekreises, machen sich reichlich Gedanken darüber, ob ihre gemeinsame Geschichte auch als Buch taugen würde.
Der aufmerksame Lohr kam nicht umhin zu fragen, warum in der Novelle so viel gequalmt werde. Denn wie erwähnt rauchen beide Figuren, man könnte sagen, Kette. Lohr habe das Gefühl, dass sich die Erzählung immer dann weiterentwickelt, wenn Reither und Palm mal wieder zur Zigarette greifen. »Rauchen ist Pantomime, mit der man sich annähert, ohne zu sprechen«, erklärte Kirchhoff, der in der ersten Fassung auf nikotinsüchtige Figuren verzichtete. »Doch da fehlte eindeutig etwas.« Und für einen kurzen Moment präsentierte sich Kirchhoff wieder als der Erotiker der Gegenwartsliteratur, als der er im Feuilleton bekannt ist. Er sorgte für heitere Reaktionen, als er preisgab, dass er mal ein Mädchen kannte, die die Tabakkrümel selbstgedrehter Zigaretten so sexy mit ihren Fingern von den Lippen wischte. »Das war einfach scharf.« Und so durfte auch das (Ketten-)Rauchen in der Novelle nicht fehlen. Heißer als die vor sich hin glimmenden Zigaretten geht es zwischen den in die Jahre gekommenen Liebhabern dann aber doch zu.
Eine Altherrennovelle
Die Widerfahrnis als eben dieses eine »Erlebnis« sucht man in der Novelle allerdings vergeblich. Stattdessen konstituiert die Erzählung eine Aneinanderkettung von Ereignissen, welche die Figuren erst zusammenbringt, schließlich nach Italien führt und zuletzt in der Begegnung mit dem geflohenen Mädchen gipfelt. Kirchhoffs »Widerfahrnisse« lassen sich unter dem Begriff »Wendepunkt«, dem grundlegenden Aspekt des Erzählens, vielleicht besser zusammenfassen. Doch zugegeben: Wendepunkt als Buchtitel hätte für den Träger des Deutschen Buchpreises zu banal geklungen.
Obwohl im Feuilleton überwiegend gelobt, vermittelt Widerfahrnis den Eindruck einer »Altherrennovelle«. Die Geschichte erzählt von der Liebe zweier Rentner, gespickt mit vielen Pointen übers Altern. Diese sorgten bei der Lesung vor allem beim älteren Publikum für herzhafte Lacher. Jugendlichen Esprit verleiht der Novelle höchstens, dass die Protagonisten Dinge tun, die man dann doch eher von Zwanzigjährigen erwarten würde: sich spontan auf einen Roadtrip einlassen, viele Zigaretten qualmen und unterwegs im Auto schlafen. Man darf als Leser hier entscheiden: Macht das die Geschichte unglaubwürdig oder dient es dem Leser in der Midlife-Crisis als Ideenarsenal?
Späte Anerkennung
Im Gespräch mit Lohr offenbarte der 68-jährige Autor, dass er die späte Anerkennung für sein literarisches Schaffen keineswegs als Ironie des Schicksals betrachtet. »Ich kenne mich ja ein bisschen aus mit der Literaturgeschichte. Und da soll es tatsächlich schon das ein oder andere Mal passiert sein, dass Autoren erst im Alter Anerkennung für ihr literarisches Schaffen zuteilwurde«, sagt ein gut gelaunter Kirchhoff. »Manchmal erst nach ihrem Tod«, fügte er noch hinzu. Das blieb dem Literaten, der den Deutschen Buchpreis 2005 selbst mit ins Leben gerufen hat, zu seinem Glück erspart.