Jane Gardams Roman Weit weg von Verona ist 47 Jahre nach seinem ersten Erscheinen endlich auf Deutsch zu lesen. Seine Überlegungen zum Krieg, zu Normalität und dem Erzählen selbst sind heute kein bisschen weniger aktuell. Besonders seine Erzählerin macht den Roman zu einem wahren Lesevergnügen.
Von Hanna Sellheim
Gleich zu Beginn von Jane Gardams Roman Weit weg von Verona lässt die 13-jährige Jessica, Ich-Erzählerin und Protagonistin, ihre Leser*innen wissen: »Ich möchte von Anfang an klarstellen, dass ich nicht ganz normal bin.« Damit setzt sie das Motto für den Rest der Erzählung. Offen und wortgewandt, aber ganz sicher nicht »normal«, schreibt Jessica auf den folgenden 230 Seiten über ihr Erwachsenwerden in einem kleinen Ort an der englischen Küste zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Der Roman war Jane Gardams Debüt, erschien in Großbritannien schon 1971. Doch erst 2018 ist er in Deutschland von Hanser Berlin entdeckt und auf den Markt gebracht worden. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Warum mussten fast 50 Jahre vergehen, bis der Roman endlich auf Deutsch zu lesen ist? Und erscheint er heute, eine Feminismus- und Digitalisierungswelle später, nicht reichlich angestaubt? Die erste Frage zu beantworten ist schwierig, auf die zweite hingegen lässt sich nach der Lektüre ein klares »Nein« erwidern.
Eine »nicht ganz normale« ErzählerinJessica als Erzählerin ist sympathisch, man folgt ihr gerne, auch wenn man ihr ab und zu nicht wirklich hinterherkommt. Denn ihre Gedanken springen häufig, schlagen Haken und rasen dann so schnell in andere Bereiche, dass die Verständlichkeit dabei zuweilen auf der Strecke bleibt.
Die Erzählperspektive eines 13-jährigen Mädchens ist durchgehend glaubwürdig konstruiert – scheint Jessica auch manchmal etwas altklug, schreibt sie doch nichts, was man ihrem Alter nicht zutrauen würde. Ihre präzisen Beobachtungen ihrer Umwelt sind von der realen Autorin so sorgfältig arrangiert, dass man dahinter tiefgründige Sozialkritik und Klassensatire durchschimmern sieht. Gardams Roman ist somit nicht in erster Linie ein Jugendbuch, sondern eines, das die jugendliche Perspektive gezielt nutzt, um vermeintlich normale Zustände verfremdend zu betrachten.
Jessica erzählt dabei so unbeschwert, so witzig, in so hohem Tempo, dass man streckenweise vergisst, dass zu ihrer Lebensrealität der Krieg gehört. Jedenfalls so lange, bis dieser mit den Bomben, die Jessica und ihren Freund auf der Straße überraschen, wieder ins Narrativ hineinbricht und dieses grundlegend verändert. Der Roman wird danach auch zu einer Trauma-Erzählung, die auf kluge Art verhandelt, welche Auswirkung die Gewalt des Krieges auf die Psyche Jugendlicher hat.
Perfekt übersetztIsabel Bogdan schafft es, das Englische so ins Deutsche zu übertragen, dass nichts von seiner Leichtigkeit, von seiner subtilen Ironie und seiner Schärfe verloren geht. Kaum etwas wirkt, als sei es dem englischen Text aufgezwungen, vielmehr atmet aus Gardams Beschreibungen auch im Deutschen das britische Kleinstadtleben in all seinem schrulligen Charme. Zur Höchstform läuft Jessicas Erzählen in den Beschreibungen ihrer Familie und der restlichen Gesellschaft auf, deren Normen sie immer wieder als heuchlerisch entblößt: »Die Gemeinde hält meine Mutter für einen schlechten Witz – sie sehen sie herumflattern und Knoten im Gesicht kriegen, und man hört sie Dinge sagen wie ›Ich glaube, die hat das ganze Jahr noch nicht das Bettzeug gelüftet‹, oder ›Du solltest mal ihre Küche sehen‹, aber zu meinem Vater kommen sie in Scharen«.
Auch kleine Wortwitze sind so geschickt übertragen, dass sie im Deutschen lustig bleiben, wie in einem Brief von Jessicas Freundin Florence:
Jedenfalls nehme ich an, dass Du krank bist, denn Du warst seit drei Tagen nicht in der Schule, aber als ich gestern bei Euch geklingelt habe, hat Rowley gesagt. ›Sie ist besund‹, und hat nach mir getreten, als ich an ihm vorbeiwollte. […] Ich habe ihn gefragt, ob er meint, Du hast einen Befund bekommen oder Du bist gesund, und er hat gesagt besund und die Tür zugeknallt.
Ein Thema ist dabei stets auch das Schreiben und die Literatur selbst. Auf virtuose Weise werden Jessicas Erzählprozess und ihre Ambition, Schriftstellerin zu werden, zum Gegenstand des Romans. Es ergeben sich so ironische Brüche, die besonders unterhaltend werden, wenn Jessica gegen Ende beginnt, sich durch die gesamte britische Literaturgeschichte zu lesen. Von den Werken – die natürlich größtenteils von Männern verfasst sind – gefällt ihr kaum eines, was für sie nur den Schluss zulässt, selbst und vor allem besser zu schreiben. Selbstreferentiell denkt sie dabei stets über Wortwahl und Genre nach und beschließt zwischendurch:
So bleibt Weit weg von Verona trotz einer gewissen Düsterkeit von vorne bis hinten ein Vergnügen für seine Leser*innen – und stimmt zuletzt doch hoffnungsfroh, statt in den Nihilismus abzugleiten. Auf diese Weise präsentiert der Text sich stets auch als Plädoyer gegen den Krieg, der seinen erzählerischen Hintergrund bildet. Er wird zur Normalität, aus der sich als einziger Ausweg die Abkehr vom Normalen offenbart, die Flucht ins ungewöhnliche Erzählen eigener Geschichten. Und das ist sicherlich zu allen Zeiten aktuell.