Nach der ›Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften‹ treibt, wer heut was auf sich hält, Kulturwissenschaft. Was das eigentlich ist, klärt jetzt der Reader Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft: eine Eintritts- und Orientierungskarte für die Denkkollektive der Kulturwissenschaft(en).
Von Philipp Böttcher
An den elementaren Funktionsweisen des wissenschaftlichen Betriebs hat sich im Laufe der Jahrzehnte offenbar nichts Grundlegendes geändert. Bereits 1935 analysiert der polnische Wissenschaftstheoretiker und Mediziner Ludwik Fleck (1896-1961) den »denksozialen Wert« bestimmter Begriffe für das wissenschaftliche Feld. Ihnen schreibt er eine geradezu »magische Kraft« zu: »Findet sich so ein Wort im wissenschaftlichen Text, so wird es nicht logisch geprüft; es macht sofort Feinde oder Freunde.« 1 Und ein Jahr später präzisiert er: «Der grundlegende Punkt ist, daß ein technischer Terminus innerhalb seines Denkkollektivs etwas mehr ausdrückt, als seine logische Definition enthält: Er besitzt eine bestimmte spezifische Kraft, er ist nicht bloß Name, sondern auch Schlagwort oder Symbol, er besitzt etwas, was ich einen eigentümlichen Denkzauber nennen möchte.«2
Die »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« (Friedrich Kittler) ging einher mit der Beschwörung des neuen Kollektivsingulars ›Kultur‹, der – vor allem in der noch immer wenig definitionsscharfen Kombination Kulturwissenschaft – nicht nur selbst zum innerwissenschaftlichen Schibboleth avancierte, sondern dessen Siegeszug bald ein ganzes Heer der laut Ludwik Fleck von einer »sakramentalen Kraft«3 umhüllten ›Zauberworte‹ folgte. Was Fleck unter deren denksozialem Wert verstand, erschließt sich Studierenden der sog. Kulturwissenschaften meist innerhalb weniger Semester. Völlig selbstverständlich verinnerlichen sie die universitären Sagbarkeitsregeln sowie die meist »mehr epidemisch als epistemisch«4 eingesetzten Modebegriffe und lernen, sich zur transdisziplinären Öffnung zu bekennen, ehe sie sich überhaupt die Grundlagen des eigenen Fachs aneignen konnten. Wer trotzdem noch immer vergeblich nach dem ›Dritten Raum‹ sucht, stets den Unterschied zwischen interpretive turn und reflexive turn vergisst oder schlichtweg den theoretischen Fundamenten der eigenen Wortschatzerweiterung auf den Grund gehen will, dem sei die jüngst bei Reclam erschienene Anthologie Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft nachdrücklich empfohlen.
Jene Rätsel, die sich die Menschheit selbst aufgibtDie von dem Würzburger Literaturwissenschaftler Roland Borgards herausgegebene Auswahl versammelt kulturtheoretische Basistexte, denen – nach dem bewährten Muster der Reihe – jeweils kurze zusammenfassende und erklärende Erläuterungen vorangestellt werden. In seiner Einleitung weist Borgards darauf hin, dass es grundsätzlich zwei Herangehensweisen zur Strukturierung derartiger Sammlungen gebe: die systematische oder die historische. Zwar versieht der Herausgeber die Texte mit systematisierenden Schlagwörtern und ordnet sie somit leitenden Paradigmen oder Disziplinen der Kulturwissenschaften zu, insgesamt entscheidet er sich jedoch für einen diachronen Zugriff. Damit zieht er letztlich nur die logische Konsequenz aus den präsentierten Texten wie aus der eigenen disziplinären Grundannahme, nach der, kulturwissenschaftlich betrachtet, alles Kultur, alles Gewordene geschichtlich geworden und folglich nichts ohne Kulturgeschichte sei5 – besteht doch der eigentliche Clou jener ›Metawissenschaft‹ Kulturwissenschaft in der Erweiterung des Gegenstandsbereiches um sich selbst. Entsprechend hat Friedrich Kittler im Jahr 2000 eine gut lesbare ›Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft‹ verfasst, an der sich Borgards u. a. orientiert, wenn er seine Anthologie mit einem Auszug aus Giovanni Battista Vicos Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (1725) beginnen lässt.6 Vico setzt der Naturerkenntnis Prinzipien der Kulturerkenntnis entgegen, deren Objektbereich alle Dinge umfasst, die der Mensch selbst geschaffen hat. Mit der Kulturwissenschaft löst die Menschheit demnach jene Rätsel, die sie sich selbst aufgibt.
Nachgeholt wird dies allerdings zum Teil in den stets instruktiven und prägnant formulierten Einführungstexten. Die verdichteten Zusammenfassungen könnten sich für den vornehmlichen Adressatenkreis (Studierende und interessierte Laien) indes in einigen wenigen Fällen als problematisch erweisen – nämlich dort, wo sie kürzer als nötig geraten sind und gänzlich auf Kontextinformationen verzichten. Dass etwa Norbert Elias seine theoretischen Überlegungen nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit der höfischen Gesellschaft entwickelte, wäre im Zusammenhang mit dessen Zivilisationstheorie ein nützlicher Hinweis, auch um besser wertschätzen und verstehen zu können, was der Herausgeber meint, wenn er pointiert, aber voraussetzungsvoll schreibt, aus Elias‘ Perspektive »erscheinen kulturelle Dinge als Inkarnationen von Peinlichkeitsstandards« (S. 120). Zudem hätte man das Elias‘sche Zauberwort »Figurationen« im selben Abschnitt eher konkretisieren sollen, statt den keineswegs selbsterklärenden Terminus lediglich zu wiederholen.
Eine sowohl politische als auch poetische SammlungGegenüber solchen allenfalls vereinzelten Einwänden bleibt die durchdachte Binnenstruktur des Bandes hervorzuheben, der – wie Borgards in Anlehnung an Hayden White und James Clifford festhält (S. 14f.) – in seiner Rhetorizität, Konstruktion und Gewichtung naturgemäß sowohl politisch als auch poetisch sei. Nicht nur stellt der Literaturwissenschaftler in seinen Anmerkungen wiederholt Verbindungen zwischen den verschiedenen vorgestellten Ansätzen her, bezieht die Texte also wechselseitig aufeinander; auch ist er in der Auswahl und Anordnung der Texte um Balance bemüht. Aus diesem Grund folgt etwa dem Textauszug aus Clifford Geertz‘ Aufsatz Thick Description (1973) ein Beitrag von James Clifford. Dieser entlarvte die Dichte Beschreibung als ein literarisches Genre eigener Art, für das spezifische Strukturen konstitutiv seien (z. B. von der Alteritätserfahrung über die teilnehmende Beobachtung hin zum Erreichen ethnographischer Autorität). Mit anderen Worten: Clifford problematisiert die Verschriftlichung dessen, was Geertz aus den Texten der Kultur liest.
Indem die Anthologie, die mit der Begründung der Kulturwissenschaft durch Vico beginnt, durch Bruno Latour zum Abschluss gebracht wird, wird am Ende nicht bloß jener Keil wieder entfernt, den Vico zwischen Natur- und Kulturerkenntnis geschlagen hat, vielmehr wird zugleich das politische Wirkungspotential der Kulturtheorien offengelegt. Solche Impulse mögen zu beobachtenden Tendenzen der selektionslosen und enthierarchisierten Aufmerksamkeitsverteilung ein Stück weit entgegenwirken; nicht zu Unrecht beklagte etwa Jochen Hörisch die »Verharmlosung und Inflationierung des Kulturverständnisses«7 durch die Cultural Studies. Davon jedenfalls kann bei der von Roland Borgards herausgegebenen Anthologie nicht die Rede sein. Studierenden wie Lehrenden ist sie nicht zuletzt aufgrund des erschwinglichen Preises und der gut zusammengestellten Auswahlbibliographie als Seminarlektüre oder persönlicher Ariadnefaden zu empfehlen. Wer sie genau gelesen hat, dem sollte der Einlass in die Denkkollektive der Kulturwissenschaft(en) nicht verwehrt bleiben.