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Stimmlager

Die Nobelpreisträgerin Herta Müller machte auf ihrer Lesetour zum Roman Atemschaukel auch in Göttingen Halt. Die Lesung voller Gegensätze hat Christoph Hoffmann beeindruckt, sie verlebendigte die Geschichte der Deportation von Rumäniendeutschen in sowjetische Arbeitslager nach 1945.

Von Christoph Hoffmann

Manche Lesungen sind eindrucksvollere Erlebnisse als andere. Schon das Ambiente in der Göttinger Lokhalle, in der die Lesung am 21. Januar 2010 wegen großer Zuschauernachfrage stattfand, war seltsam: Riesige, ausgeleuchtete Zahnräder und Haken hingen von der Decke, mächtige Vorhänge unterteilten den Raum. Angesichts der respekteinflößenden, industrieromantischen Kulisse erschien Herta Müller noch viel kleiner, als sie es ohnehin ist. Sie wirkte verloren, eingeschüchtert und irgendwie ausgeliefert, wie sie in ihrer unscheinbaren, schwarzen Garderobe und mit ihrer streng in Form gebrachten Frisur vor 800 Zuschauern saß, von denen viele, das kann man wohl annehmen, vor der Verleihung des Literaturnobelpreises noch nichts von dieser Frau gehört, geschweige denn gelesen hatten.

Insa Wilke, hoch gewachsen und komplett in weiß gekleidet, damit fast als optisches Gegenstück zum Gast des Literarischen Zentrums auftretend, führte ein einleitendes Gespräch über die Ästhetik, Stilistik, Herkunft und Geschichte von Herta Müllers Werk. Müller war während dieser Unterhaltung sehr still, eintönig und schüchtern. Sie seufzte oft, mied Augenkontakt sowohl mit ihrer Gesprächspartnerin als auch dem Publikum, zog sich nach jeder Antwort in sich zurück. Sie beantwortete persönliche und intime Fragen, etwa nach Erfahrungen des Todes innerhalb der Familie und im Bekanntenkreis oder dem eigenen Umgang mit der Securitate-Überwachung, genauso sachlich und analytisch wie die nach ihrer Kunstsprache. Herta Müller sagte dabei nur selten mehr als nötig.

Sonderbar verstörend wirkte die einzige Situation, in der die Autorin lächelte. Sie erzählte von ihrer Reise mit Oskar Pastior, die beide in das sowjetische Arbeitslager Nowo-Gorlowka führte, in das er als Rumäniendeutscher 1945 deportiert worden war. Pastiors Erfahrungen und Erlebnisse im Gulag waren die Vorlage für Müllers Roman Atemschaukel. Vor Antritt dieser Reise hatte er sich eine Arbeitshose gekauft; sie würden ja schließlich ins Arbeitslager fahren, hatte er erklärt. Herta Müller lächelte, und auch im Publikum wird, leise und ratlos, gelacht. Als sie das Lager jedoch erreicht hatten, so Müller, wieder in ihren traurigen Ausdruck zurückgezogen, war Pastiors Bemerkung gar nicht mehr komisch.

Zur Person


Herta Müller

1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf (Rumänien) geboren, arbeitete Herta Müller nach ihrem Studium als Übersetzerin und wurde entlassen, da sie sich weigerte, für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu arbeiten. Ihr erster Roman Niederungen wurde erst verzögert und zensiert veröffentlicht. Nachdem er 1984 in der Originalfassung in Deutschland erschienen war, musste Müller Verhöre, Hausdurchsuchungen und Bedrohungen über sich ergehen lassen. 1987 siedelte sie nach Deutschland über.

 
 
In der eigentlichen Lesung dann wirkte Herta Müller etwas gefasster und selbstsicherer als im Gespräch, dennoch vorsichtig und zurückhaltend in Artikulation und Lesetempo. Sie las einzelne Kapitel aus ihrem Roman Atemschaukel, in dem es um die alltäglichen und spezifischen Schrecken des Lagerlebens geht. Sie las in beim Lesen wiedererlangter Sicherheit veränderter Stimmlage über den Tod, den Hunger, die Arbeit und die Angst.

Ihre eigenartige und harte Sprache klang durch diesen langsamen und leisen Vortrag ganz anders, als sie auf mich beim Lesen wirkte. Die Schrecken des Lebens im Arbeitslager werden durch Herta Müllers sachliches und präzises Schreiben deutlich und lebendig, durch Wortzusammenfügungen monströs. Wenn sie aber selber liest, ist der Eindruck durch ein noch viel tieferes Leid verstärkt. Ihre Stimme ist die eines Opfers, das zum eigenen großen Unglück sehr klug ist, die Feindseligkeit jedes Details im Lager erkennt und, das wird besonders deutlich, tragischerweise um die eigene Ohnmacht genau Bescheid weiß.

Es war anstrengend, Herta Müller zuzuhören. Schonungslos erzählte sie vom Leid im Lager, sparte nichts aus, machte keine Pause, gab keine Zeit, die Masse an Schrecken zu verdauen. Die kleine Nobelpreisträgerin mit der eigensinnigen Sprachmacht ermöglichte plastische Einblicke in eine, den meisten glücklicherweise unbekannte, neue Dimension von Angst, Leid und Elend.

Als Herta Müller schließlich schnell und mit einem kurzen Lächeln die Bühne verließ, war man fast schon erleichtert. Diese Lesung war eine extreme Erfahrung; intensiv, verstörend und zutiefst beeindruckend.



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 Veröffentlicht am 12. August 2010
 Das Bild ist ein Ausschnitt einer Fotografie von bosela über MorgueFile
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