Amal und Hammoudi führen ein sorgloses Leben in Syrien, zwischen Karriere, Club und Swimming Pool. Bis der Bürgerkrieg ausbricht und alles aus den Angeln hebt: Olga Grjasnowa erzählt von Krieg und Flucht im 21. Jahrhundert.
Von Steffen Bach
Hammoudi kommt nur kurz aus Paris zurück in die Heimat, um seinen Pass zu verlängern – und will dann wieder zurück zu Freundin und Medizinstudium an die Seine. Amal verfolgt ihre Schauspielkarriere begeistert, genießt aber auch die Wochenenden in der Villa ihres Vaters und in den Clubs der Hauptstadt, mit viel Alkohol und aufgedrehten Bässen. Beide führen sie ein Leben, das es gut mit ihnen gemeint hat: Sie sind jung, reich und schön. Und beide leben sie in Syrien. Davon erzählt Olga Grjasnowa in ihrem neuen Roman Gott ist nicht schüchtern. Wir lernen die ProtagonistInnen kurz vor Ausbruch des Arabischen Frühlings 2011 kennen, und tauchen in ihr autoritär geprägtes, gleichzeitig aber westlich ausgerichtetes Leben ein.
Hammoudi hat von Kindesbeinen auf gelernt, dass zwischen Damaskus und Aleppo auf ihn keine Zukunft wartet, sondern nur in Europa, Kanada, Australien. Also ist er dem Rat der Eltern gefolgt, hat sich für Medizin in Paris eingeschrieben, sich in Claire verliebt, und denkt bei der Ankunft in seiner Heimatstadt Deir ez-Zor im Osten des Landes an die Kindheit in den staubigen Straßen zurück. Mehr verbindet ihn nicht mit der Stadt in der Wüste, die er so schnell wie möglich wieder gegen Paris eintauschen will.
Amal ist Schauspielerin und lebt in Damaskus in der kleinen Wohnung, die ihr Vater ihr geschenkt hat – ihr Vater, der in Moskau studierte und durch Geschäfte mit dem Regime viel Geld verdient. Materielle Sorgen hat Amal nicht, zu schaffen macht ihr nur die abwesende Mutter, die eines Tages den Vater verließ, zurück in ihre russische Heimat floh, und die Amal seitdem nur noch aus Erinnerungen kennt.
Die Konflikte und Sehnsüchte, die die beiden ProtagonistInnen umtreiben, unterscheiden sich kaum von denen, die ein Twentysomething irgendwo anders auf der Welt durchstehen muss. Es geht um das Leben der Eltern, das einen vielleicht mehr geprägt hat, als man sich bisher eingestehen wollte. Um die Entscheidungen, die man treffen muss, wenn man sich dem Ende der Ausbildungszeit nähert: Will man Karriere machen? Eine Familie gründen? Beides? Lieber in den nächsten Club gehen und alles Nachgrübeln über die Zukunft in Hochprozentigem ertränken?
Die Welt, von der die Autorin im ersten Teil ihres Romans so detailreich erzählt, würde sich vertraut anfühlen, wenn da nicht das politische System Baschar al-Assads wäre, das Amal und Hammoudi jederzeit überwacht. Beide fühlen sich unwohl in Syrien, auch wenn das herrschende Regime Reisen, Clubs, sexuelle Freizügigkeit und kulturelle Events großzügig toleriert. Es fühlt sich falsch an für die junge Generation, weiterhin vor den Assads und ihren Helfershelfern zu katzbuckeln, nur weil die Eltern und Großeltern das schon immer so gemacht haben. Schon kleine Vergehen und Respektlosigkeiten ahndet der Staat willkürlich mit Gefängnis und Folter. Trotzdem ist Amal fasziniert von den Demonstrationen gegen Assad, die jede Woche größer werden, und bei denen sie immer öfter mitläuft.
Amal und Hammoudi reagieren ganz unterschiedlich auf die zunehmende Gewalt, die sich ihrer Umwelt bemächtigt. Amal geht auf die Straße, lässt sich mitreißen vom Gefühl der Macht und der Zusammengehörigkeit, die die Demonstrierenden verbinden. Hammoudi kann zunächst mit den Protesten nichts anfangen, schließt sich aber später einem Untergrundkrankenhaus an, als er sieht, dass ZivilistInnen zwischen die Fronten geraten.
Grjasnowa zeichnet den Alltag in Syrien mit leichter Hand und versieht ihn mit so vielen Details, dass man vor ihrer Recherchearbeit den Hut ziehen will. Im medialen Diskurs der letzten Monate tauchen Syrerinnen und Syrer vornehmlich als bemitleidenswerte Flüchtlinge oder als Assad-treue Kriegsverbrecher auf. Grjasnowas Roman schafft es, andere Bilder von ihnen aus der Zeit zu entwerfen, bevor das Land im Chaos versank.
Der Roman beißt sich auch an der gefühlten Distanz zwischen Syrien und Ländern, die vom Krieg verschont sind, fest und entreißt ihr große Stücke. Denn mit Hammoudi und Amal kommen wir einer anderen Geschichte hinter dem Syrien-Krieg nahe, der eben nicht in erster Linie aus Appellen und Konferenzen im Fernsehen besteht, sondern aus Menschen, deren Alltag und Hoffnungen in tausend Teile fliegen. Die um ihr Leben fürchten müssen.
Grjasnowas Erzählung weist allerdings auch ein zentrales Problem auf: Die LeserInnen könnten den Eindruck bekommen, die Autorin sei nicht ganz sicher gewesen, ob sie nun eine aufrüttelnde Reportage über den Beginn des syrischen Krieges hat schreiben wollen oder einen kunstvollen Text, der in erster Linie sprachlich-ästhetischen Ansprüchen genügen soll. Gott ist nicht schüchtern ist irgendwie beides, irgendwie dann auch weder noch.
Der Umfang von nur gut dreihundert Seiten hat zur Folge, dass die Handlung mitunter kursorisch vorwärts getrieben wird: Von Amals erster Verhaftung ist die Rede, dann von ihrer Flucht nach Beirut und weiter Richtung Norden. Die Ängste, die die Schauspielerin dabei ausstehen muss, schildert Grjasnowa einfühlsam und nah. Trotzdem wirkt die Geschichte mitunter gehetzt, obwohl zum Beispiel gerade von der zermürbenden Wartezeit auf die Schlepper berichtet wird. Etwas mehr Raum hätte dem Roman hier gut getan.
Noch ärgerlicher wird diese Platznot bei Hammoudis Geschichte. Dem angehenden Chirurgen wird mit Beginn des Arabischen Frühlings die Ausreise nach Frankreich verweigert. Von da an kämpft er im Untergrundkrankenhaus mit bescheidenen Mitteln um das Leben seiner PatientInnen. Vier Jahre lang hält Hammoudi dieses Leben aus, bis er ebenso wie Amal fliehen muss. Vier Jahre im Krieg, die Grjasnowa auf etwa 60 Seiten schildert, gezwungenermaßen stark komprimiert. Gerade die zermürbende Allgegenwart des Krieges, des Sterbens, wird so zwar immer wieder aufgegriffen, seine Anwesenheit den LeserInnen aber sonst nicht weiter vermittelt. Lediglich treten Gefechtsszenen in grausamen Kurz-Episoden auf, die Gefühlswelt der ProtagonistInnen wird in diese aber nur wenig integriert, obwohl sie doch so stark mit ihnen verwoben ist. Nicht Showing sondern Telling scheint hier das Konzept zu sein. Warum, fragt man sich, lässt Grjasnowa sich nicht mehr Zeit mit ihren Figuren? Man hätte ihr auch einen doppelt so langen Text mit gleicher atmosphärischer Dichte zugetraut. Mit der Dichte in Schilderungen von Ereignissen, die tatsächlich gerade so ähnlich in Damaskus, Aleppo und Deir ez-Zor stattfinden.
Auch Grjasnowas Wahl der Erzählperspektive ist mitunter nicht schlüssig. Der Wechsel zwischen auktorialer und personaler Erzählweise ist zwar nicht neu, trotzdem verwirrt die plötzlich zunehmende Distanz der Perspektive, wenn das Geschilderte besonders schrecklich wird. Als Amal mit ihrem Vater Bassel beispielsweise über die Proteste diskutiert, streut die Erzählinstanz Informationen über das Massaker ein, das die Assads Anfang der 1980er-Jahre an den Muslimbrüdern verübten:
»Es lässt sich nicht mehr aufhalten«, sagt Amal. […] Bassel winkt ab und senkt seine Stimme: »Und ob! In Hama haben sie 1982 auch alles plattgemacht und danach hat sich keiner mehr gerührt. Genau so wird es auch diesmal sein.« In seiner Stimme liegt Gereiztheit.
Hama ist zu einem Code-Wort geworden, das Erinnerungen an den letzten Aufstand gegen das Regime heraufbeschwört. […] Damals kam es in Hama zu einer Rebellion der Muslimbrüder. Um seine Macht zu festigen, ließ Hafiz al-Assad das Militär einmarschieren und die ganze Stadt dem Erdboden gleichmachen. […]
»Die Gesellschaft könnte sich neu organisieren, demokratisch«, versucht Amal noch einmal leidenschaftlich dagegenzuhalten, »wir könnten lernen.« »Du bist zu alt für solche Naivität«, entgegnet Bassel und zündet sich eine Zigarette an.
Gerade in dem Moment also, als die grausamen Fakten über die Bluttat von 1982 zur Sprache kommen, zoomt der Roman weg von den Figuren, hin zu einem kurzen, reportagenhaften Einschub über syrische Geschichte. Grjasnowa erhöht die Distanz zu den ProtagonistInnen, lässt die LeserInnen nicht daran teilhaben, was Amal fühlt, als ihr Vater auf das Massaker anspielt.
Gott ist nicht schüchtern könnte sehr gut sein. Die Autorin versteht es, packend zu erzählen. Auch die politische Tendenz des Romans überzeugt: Syrien ist eben nicht weit weg. Trotzdem bleibt das Lob ein Stück weit im Halse stecken. Genau zu erzählen ist für SchriftstellerInnen nicht Kür, sondern Pflicht.
Auch der eher geringe Umfang des Romans wird hier und da dem gewaltigen Thema des Syrien-Konfliktes nicht gerecht, Entwicklungen der ProtagonistInnen werden mehr skizzenhaft erzählt als in aller Fülle gezeigt. Wenn sich die Autorin mit ihrem nächsten Roman etwas mehr Zeit (und Raum) lässt, könnte der nicht nur lesenswert, sondern ein Erlebnis werden.