Missglückter Suizid, Streit mit der Mutter und der Schwarm in der Schule bleibt auf Distanz. Das Leben Alba Dopplers, der Protagonistin aus Demian Lienhards Debütroman, ist schwierig. Doch sie nimmt das Ganze locker, immerhin lernt sie im Krankenhaus Jack kennen, der ihr Leben ziemlich auf den Kopf stellt.
Von Emilia Kröger
»Man kriegt fast den Eindruck […] in Zürich werde zu wenig gestorben.« Anfang des Jahres betitelte die Aargauer Zeitung das Ende des Sterbehilfe-Booms in der Schweiz. Rückgehende Zahlen bei den assistierten Suiziden habe es seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gegeben. Grund für den sogenannten Boom ist das liberale Sterberecht in der Schweiz. Aus allen Ländern, vor allen aus Deutschland, kommen Menschen mit dem Wunsch nach dem Ende des Lebens in die Schweiz, da sie unter einer tödlichen Krankheit, einer unzumutbaren Behinderung oder nicht beherrschbaren Schmerzen leiden.
An diesem »Freitod-Tourismus« stört sich die Schweizer Bevölkerung jedoch nicht. Das liberale Sterberecht repräsentiert vielmehr den offenen Umgang der Schweizer*innen mit dem selbstgewählten Tod. Auch bei dem aus der Schweiz stammenden Autor Demian Lienhard zeichnet sich diese Unerschrockenheit gegenüber dem Topos Tod ab. Sein Debütroman ist Anfang des Jahres bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen und trägt den Titel Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Schon der erste Satz zeugt von Lienhards gekonntem Stil, denn es ist schon eine Kunst, einen Suizid so im Nebensatz zu verstecken:
Ich habe Jack an dem Tag kennengelernt, als hinter unserem Haus ein Achtundzwanzigjähriger vom Himmel gefallen ist.
Der Achtundzwanzigjährige bleibt auch danach eine anonyme Zahl. Viel wichtiger ist die Hochbrücke in Baden, von der er sich gestürzt hat. In diesem kleinen Ort in der Schweiz lebt die Protagonistin Alba. Hier gehört Suizid zu ihrem Alltag: »Unsere Klasse hatte […] bereits während des ersten Jahres drei Schüler verloren. Ganz schön viele Tote auf einmal, könnte man jetzt denken, aber das denke ich nicht. Im Tal, aus dem ich komme, ist das normal«.
Das Leben nach dem SuizidDie Geschichte der Protagonistin Alba beginnt im Krankenhaus nach ihrem eigenen Selbstmordversuch. Doch wer jetzt denkt, dass das als Ausgangspunkt für einen Roman ausreiche, der hat die Rechnung nicht mit Lienhard gemacht. Der Autor schont seine Protagonistin nicht, sondern schickt sie erbarmungslos durch eine raue Jugend. Als Erzählerin berichtet
Albas soziales Umfeld ist nicht groß, verändert sich jedoch stetig. Während ihres Krankenhausaufenthalts lernt sie Jack und Eulalia kennen. Eulalia geht in ihre Schule und hat sich den Arm gebrochen, die beiden werden beste Freundinnen, als Beweis dafür brennen sie sich ihre Namen gegenseitig mit Zigaretten in den Oberschenkel. Jack hingegen ist nicht Patient im Krankenhaus, Alba trifft ihn zufällig draußen, er lehnt an seinem Käfer, sie wechseln drei Worte und dann steigt Alba ein. Von da an besucht Jack Alba jeden Tag im Krankenhaus, die beiden werden ein Paar. Zwischen dem Dreiergespann aus Alba, Jack und Eulalia entspinnen sich jedoch immer wieder Eifersuchtsdramen und Misstrauen.
In Albas Familie herrschen ebenfalls heftige emotionale Konflikte. Aber Albas Familie, die besteht eigentlich nur noch aus ihrer Mutter. Der leibliche Vater verließ die beiden früh, der Stiefvater Victor erhängte sich auf dem Dachboden, in seinem Abschiedsbrief hielt er sich kurz:
Die Lücke, die ich hinterlasse, ersetzt mich vollkommen.
Victors Selbstmord verstärkt den Konflikt zwischen Mutter und Tochter, beide leiden fortan an einer Depression. »Denn mit Victor ist der Efeu in meinen Kopf gewachsen. Der Samen davon war schon vorher da, aber noch verborgen damals. […] Aber wenn sich diese Idee nach oben schmuggelt … und das hat sie. Die Ranken waren jetzt überall.«
»Dann trifft es mich wie ein Leichenwagen in der eigenen Hauseinfahrt«Lienhards Debüt überzeugt mit treffenden Beschreibungen von den Gefühlen der Protagonistin. Seine Formulierungen zeugen außerdem von einem bildlichen und sehr detaillierten Stil. So wird in Alba alles froh, »wie Popcorn in der Pfanne ein bisschen«. Eltern sehen aus »wie ein riesengroßes Missverständnis« und »[ein] paar Silben plumpsen aufs Pflaster«, wenn Alba stottert. Ihre mündliche Ausdrucksart macht die Protagonistin dabei so nahbar, dass es sich manchmal anfühlt, als würde sie dem*der Leser*in ihre Geschichte im vertrauten Gespräch erzählen. Die humorvollen Schilderungen und Albas Ironie bilden dabei einen Gegensatz zu der eher tristen Realität, die sie beschreiben:
Meine Mutter hat mich zum Seelendoktor geschickt damit. Und der so: – Alba hat Angst vor dem Tod. Oder vielleicht ist es ihre Seele, die damit zum Ausdruck bringen will, dass sie etwas verloren hat. Ja. Hundert Franken die Sitzung, und dann das. Vielleicht hast du Cholera. Aber vielleicht ist es auch Krebs.
Nachdem über zwei Drittel des Romans Albas Schulzeit, ihre Beziehung zu Jack, Eulalia und ihrer Mutter beleuchtet haben, überschlägt sich die Handlung auf den letzten hundert Seiten: Gescheitertes Studium, Heroin-Sucht, Obdachlosigkeit und dann wiederum geglückter Entzug. Das prägt Albas Zwanziger. Auch wenn das Erzähltempo hier schnell überfordern kann, gelingt es Lienhard gut, psychische Wahnvorstellungen und Sucht zu beschreiben. »Das Heroin kapselt dich ein in der Vergangenheit. Du bleibst hier, und die Zeit zieht an dir vorbei. Es ist wie Fliehen, nur umgekehrt. Alle anderen gehen, du bleibst.«
»Wenn ich Leuten meine Geschichte erzähle, dann lasse ich einige Wahrheiten weg und füge andere hinzu«Im Laufe des Romans wird außerdem immer deutlicher, dass Albas Erzählperspektive durchaus Unzuverlässigkeit aufweist. Das macht die Schilderungen einer psychisch-instabilen Person mit Depressionen und Drogenabhängigkeit noch glaubwürdiger. »Manche meiner Erinnerungen sind wie die Straßen unter den Leuchtkegeln, die von den Laternen hängen: hell und klar, aber viel zu sehr für sich und dazwischen nichts außer Dunkelheit.« Diese Selbsteinschätzung fasst auch die Erzählstrategie des Romans sehr gut zusammen. Viele Ereignisse sind zusammenhangslos. Einige Handlungsstränge werden zusammengeführt, andere bleiben ungeordnet. Der Roman erhebt jedoch auch nicht den Anspruch, eine logische Lebensgeschichte zu präsentieren, vielmehr bildet er in seiner Zusammenhangslosigkeit die Realität ab, die Alba als Protagonistin erfährt.
Demian Lienhards Debüt Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat erzählt Albas Leben, als eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Tod, Familie, Sucht und dem Heranwachsen in einer Schweiz der 80er Jahre. Der Bezug auf die Jugendaufstände und den heißen Sommer von Zürich 1980 könnte dabei etwas tiefer greifen. Auch die anderen Themen verlaufen im Sand, genauso wie einige Handlungsstränge, wodurch der Roman etwas unbeholfen und abrupt in seinem Ende wirkt. Dafür beweist sich der Schweizer Autor in treffsicheren Beschreibungen von Gefühlen, Figuren und Situationen und einer außergewöhnlich kreativen Ausdrucksweise.