Der Erzähler von Christian Krachts Eurotrash und seine Herkunft sind dem:der Leser:in nach der Lektüre von Faserland bereits vertraut. In seinem aktuellen Roman geht Kracht aber einen Schritt weiter und reflektiert über diese Themen auf seine eigene, sehr gelungene Weise. Von Lisa M. Müller.
Von Lisa Marie Müller
Christian Kracht ist nicht neu auf dem literarischen Spielfeld der Autofiktion: Das Verweben von autobiografischen Elementen mit einer fiktiven Handlung ist wichtiger Bestandteil einiger seiner Werke. Mit seinem namenlosen Ich-Erzähler in Faserland hat er eine Art Prototyp geschaffen, der in den Kanon aufgenommen wurde und in Feuilleton, Abi-Klausuren sowie literaturwissenschaftlichen Debatten immer wieder Thema ist. Alles vielleicht etwas zu oft. Ein Vierteljahrhundert später folgt mit Eurotrash die nahtlose Anknüpfung. Und die kann an Gesprächsstoff und Autofiktionalitätsgetue mit Faserland nicht nur mithalten, sondern übertrifft es. Denn dieses Werk verstört nicht nur, es regt zu Recherchen an und zeigt aufs Neue, wie krachtig es werden kann.
Der Ich-Erzähler heißt Christian Kracht und hat vor 25 Jahren einen Roman namens Faserland geschrieben (trotzdem bitte nicht darauf hereinfallen und mit dem Autor verwechseln). Er ist wieder unterwegs, diesmal nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz. Es sind auch wieder Drogen im Spiel: Er besucht seine psychisch kranke, abwechselnd mit Medikamenten und Alkohol zugedröhnte Mutter und unternimmt mit ihr – was eigentlich? Eine spontane, sehr teure, für den Taxifahrer äußerst unterhaltsame Taxifahrt? Eine Fantasiereise in ihre gemeinsame Vergangenheit? Einen Roadtrip nach »Afrika« in Anführungszeichen?
Das Einsteigen ins Taxi ist für Lesende der Anfang eines Trips: Während der Erzähler immer wieder seine Vergangenheit und Herkunft reflektiert, fahren seine Mutter und er mit dem Taxi umher, das erklärte Ziel heißt erstmal Afrika und ist von mindestens einer der beiden Figuren nicht ernst gemeint. Zuerst landen sie statt in einer Hippie-Kommune in einer Nazi-Kommune, es gibt umherfliegendes Geld, und die drei Hexen aus Macbeth tauchen auf. Dann ist da noch der Versuch, sich ein Privatflugzeug zu organisieren, stattdessen beraubt zu werden, dann doch nicht, um weiter, immer weiter mit dem Taxi zu fahren. Ähnlich wie in Faserland das Kotzen Motivcharakter hat, ist es in Eurotrash der Kackbeutel der Mutter, der aufgrund ihres künstlichen Darmausgangs immer wieder geleert werden muss.
Eine wirklich grandiose Szene entsteht, als sie sich am frühen Vormittag entscheiden, in einem schicken Restaurant Forellen zu essen: Ohne Rücksicht auf Manieren bestellt die schon betrunkene Mutter neben dem Fisch den billigsten Kochwein, und zwar mit einer Bestimmtheit, die kein Nein zulässt. Gleichzeitig analysiert der fiktive Kracht die möglichen Gedanken des Kellners, der es gewohnt sein müsse, dass sich der Pöbel über extravagante Wünsche und teuren Wein versucht, Distinktion zu erkaufen. Nur sehr gehobene Prominenz habe so etwas gar nicht nötig. Solche kurzen Einblicke in das Klassenbewusstsein des Erzählers sind aufschlussreich und geben den Anreiz, Klassenherkunft, auch oder gerade wenn man sehr viel Geld zur Verfügung hatte, häufiger zu thematisieren. Ob in Literatur oder in alltäglichen Gesprächen – viel zu oft scheint es schambehaftet zu sein, über die soziale Herkunft zu sprechen, wie es der Erzähler in dieser Szene tut:
Und manchmal hatte ich mich auch gefragt, ob nicht meine gesamte Familie und auch das gesamte Umfeld meiner Familie sich von der Erniedrigung anderer nährte, von einem Elitebewußtsein, das in Wirklichkeit das Gebaren einer Mittelschicht war, die in die Oberschicht hinaufwollte und gleichzeitig vor nichts mehr Angst hatte als vor ihrer eigenen proletarischen Herkunft.
Auffällig sind die ausschweifenden Reflexionen zu Verflechtungen von bekannten Verlagen und nie entnazifizierten Kreisen. Die Familiengeschichte des Autors ist verwoben mit der Geschichte des Erzählers Kracht und lässt vermuten, dass eine NS-Familienrecherche aufschlussreich war und einige Querverbindungen hervorgebracht hat, die mindestens zum Teil der Realität entsprechen. Diese Einblicke regen zur weiteren Recherche an: Was davon ist wahr? Was dazu gedichtet? Was würde ich finden, wenn ich in der Vergangenheit meiner Familie recherchiere? Diese Frage sollten sich Menschen mit deutschen Vorfahren, die nicht Opfer des NS waren, stellen. Und darauf stößt eine:n dieses Buch.
IrritationenDas Eurotrash vorangestellte Zitat »What is fully, completely understood leaves no trace as memory« von Jiddu Krishnamurti lässt sich auf den Roman übertragen. Vieles bleibt hängen, weil es nicht direkt verstanden wird. Um etwas auszulösen, ist es oft von Vorteil, erstmal zu irritieren. Manchmal ist Irritation aber auch überhaupt nicht gewinnbringend. Etwa wenn die Sprache einer Figur nicht zu ihr passt, was leider an einigen Stellen vorkommt, beispielsweise als der Ich-Erzähler zu seiner Mutter sagt: »Dein Vater war in der SS, for fuck‘s sake.«
Dennoch zeigt Krach in dem Buch, dass er wirklich viel kann. Im beliebten Spiel der Autofiktion kennt er die Regeln auswendig, könnte aber dennoch den Ball etwas flacher halten. So fragt etwa die Mutter ganz platt: »Endete nicht Dein Buch Faserland auch so ähnlich?« und die Antwort darauf ist »Ja, aber das war ja fiktiv. Dies hier ist echt.« Er macht es sich einfach, aber es funktioniert.