Vierundzwanzig Lieder, zehn Jahre, vier Männer und ein Schneesturm: Das Junge Theater brachte mit Wir müssen reden. Wenn Männer unter Ohrwurm leiden ein Musical auf die Bühne, das den modernen Mann beim Scheitern vorführt.
Von Michelle Rodzis
Wenn sich zwei Freundinnen zum Kaffee treffen, kommt meist sehr schnell das Lieblingsthema der modernen Frau auf den Tisch: Männer und wie sie ticken. Genau diesem Thema spürt das Junge Theater im Musical Wir müssen reden. Wenn Männer unter Ohrwurm leiden auch nach.
Dabei wählt das Stück, das laut Angabe des JT aus den Proben heraus gemeinsam entwickelt wurde, nicht den Ansatz von tratschenden Mittdreißigerinnen, die sich wahlweise über Chefs, Kollegen oder ihren Ehemann auslassen, sondern lässt das vermeintlich so starke Geschlecht selbst zu Wort kommen. Der Plot ist simpel: Die vier Männer Dirk, Dave, Thomas und Ulf – alte Jugendfreunde – treffen sich nach 10 Jahren wieder und lassen die alten Zeiten aufleben, bis ihr Treffen unfreiwillig durch einen Schneesturm und eine Tür, die sich nicht öffnen lässt, verlängert wird. Und wie das so ist, wenn man unfreiwillig länger beisammen ist, als man geplant hatte: Die Herren kommen ins Gespräch und berichten, wie es ihnen in der Zwischenzeit mit ihrem Leben ergangen ist.
Die Inszenierung wird von den insgesamt 24 Liedern getragen, die von den Figuren angestimmt werden und mit deren Hilfe sie zu einer ganz eigenen Interpretation ihres (gescheiterten) Lebensentwurfs gelangen, wobei das Kernthema des Stückes immer wieder variiert und von verschiedenen Seiten beleuchtet wird: Was macht den Mann in unserer heutigen Gesellschaft aus? Wie geht es ihm mit den Anforderungen seiner neuen Rolle? Und vor allem: Ist die Gesellschaft nach der Emanzipation der Frau überhaupt noch fair zu Männern?
Lean back and enjoy the melodies …Da es sich bei den musikalischen Inszenierungen um mehr oder minder bekannte Stücke handelt, fällt dem Publikum der Einstieg in das Stück nicht schwer. Die Auswahl der Lieder reicht von den Beatles über Rainald Grebe bis zu Rammstein und bedient damit einen breiten Publikumsgeschmack, was zu viel guter Laune und Mitwippen im Zuschauerraum führt. Dies liegt nicht zuletzt auch an der musikalischen und schauspielerischen Leistung des Ensembles: Mit den vier überzeugenden Darstellern sind alle männliche Stimmlagen vertreten. Und dass die Hintergrundmusik teils als Playback eingespielt, teils live auf der Bühne mit Gitarre und Klavier performt wird, kommt der Dynamik des Musicals nur zu Gute.
Das Junge Theater Göttingen entstand 1957 als innovatives und alternatives Zimmertheater. Der Schauspieler Bruno Ganz läutete hier seine Karriere ein, auch Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht verwirklichten sich im Jungen Theater. Heute bietet das Haus rund 200 Zuschauern Platz. Unter Intendanz von Andreas Döring setzt das JT auf zeitgemäße Themen auch in klassischen Stoffen.
Dieses Konzept geht allerdings in der zweiten Hälfte des Musicals nicht mehr ganz auf: Der Handlungsverlauf tritt gänzlich in den Hintergrund und statt weiteren Gesprächen folgt eine medleyartige Inszenierung verschiedener Lieder. Wer sich irritiert fragt, warum die Musik nicht mehr von der Handlung motiviert wird, kann sich entweder der Interpretationswut hingeben und versuchen, einen Sinn zu erschließen (vielleicht stellen die acht Lieder jeweils zwei Träume pro Figur da, in denen ihr Unterbewusstsein illustriert wird?) – oder er kann sich einfach zurücklehnen und die gute Unterhaltung genießen.
Wir müssen reden ist ein Stück, das dem Zuschauer viel bietet: Zum Einen eine scharfsichtige Analyse der Einzelschicksale von vier Männern, die alle auf ihre persönliche Art und Weise in der modernen Gesellschaft – an ihr oder an sich selbst – gescheitert sind und nun von ihren Freunden aufgebaut oder auch hoch genommen werden, um sich gegenseitig aus ihrer Misere zu helfen. Zum Anderen lässt es das Stück auch nicht an Humor fehlen: In bester Comedy-Manier werden Witze abgefeuert, die vielfach aus der Situation entstehen, mit Klischees spielen und vor aktuellen Themen wie »das Phänomen Lena Meyer-Landrut« oder die Aussicht auf Ursula von der Leyen als Bundespräsidentin nicht Halt machen. Gerade die Synthese dieser beiden Aspekte macht Wir müssen reden zu dem, was es ist: Amüsante Abendunterhaltung, die zum Nachdenken anregt.