Zwei Songs auf Tocotronics neuestem Album Die Unendlichkeit berichten nicht wie alle anderen vom besonderen Lieben und Leben westdeutscher Indie-Jungens, sondern referieren eine bestimmte anthropologische Grundsituation.
Von Anna Bers
Die Unendlichkeit (Tocotronic, Vertigo/Universal, 2018) ist ein autobiographisches Album. Manch eine/r ist davon genervt: Nabelschau und Bandgeschichte in Zeiten, die es doch wohl einfordern, die eigene Blase endlich zu verlassen – ist das nötig? Wie schon nach dem letzten Album hört man aber auch Stimmen, die es konsequent finden, dass die Musik von Tocotronic (wieder) intimer und unmittelbarer wird. Ein Potential dieser stets genau halb-fiktionalen Narration (von Lowtzow nennt das einen »autobiografischen oder autofiktionalen Charakter«), dieses Pop-Romans, liegt nämlich in der Konkretisierung, die Spannung in die Songs bringt, weil sie individualisiert. Die Kapitel dieses Textes bekommen Futter und Substanz durch Orte, Namen, Dinge, die historisch gebunden und nicht nur Symbol sind. Handys, Gitarren, 1993, ICEs und das beklemmende K.O.O.K.-Idyll. Das kann Spaß machen und sexy sein. Die Dechiffrierung der bandgeschichtlichen Bezüge kann eingefleischten Fans die Wonnen der Wissenden bereiten. Und möglicherweise ist Selbstoffenbarung und Betroffenheit auch ein Weg aus dem Diskursgeschwurbel ins Engagement – so zumindest wünscht sich die Band das. Wer das Wort »Anorak« hört, weiß um die Qualen einer Zeit, in der man noch »Anoraks« trug und die Liebe als »wilder Wirbel« alles – tüdelü – durcheinanderbrachte. Das Band-Ich macht offenherzige Identifikationsangebote und wir reichen ihm und Buzz Lightyear die Hand, indem wir einer animierten Spielzeugpuppe glauben, dass uns diese wahren Geschichten aus ihren eigenen engen Bezügen »in die Unendlichkeit und noch viel weiter« – ins Universelle – tragen.
Wenn das – so ungefähr – das Konzept des aktuellen Albums ist, dann bleiben einige Songs übrig, die irgendwie anders verfahren, man liest entsprechend wenig über sie. Und wäre nicht die tatsächlich aufregende musikalische Vielfalt mit ihren Überraschungsmomenten, dann könnte man sagen, sie sind ziemlich flach. Das Album wirklich als Roman gelesen, verhielten sie sich wie eingestreute Gedichte von der konventionellsten Sorte: Sie sind kein bisschen konkret – und zugleich gar nicht dunkel, bleiben dicht am Ich und zeichnen doch nur eine millionenfach ausgelutschte und statische Grundsituation nach. Zwei dieser Lieder (im literarisch-romantischsten Sinne) sind die Titel Bis uns das Licht vertreibt (Nr. 8) und Mein Morgen (Nr. 11). Welche Funktion haben diese Teile in Bezug auf das Ganze?
1. Eine Grundsituation für ein GrundliedBeide Songs beschreiben die gleiche Situation, die wir in einer stark moschusduftenden Variante auch schon andeutungs- und versweise aus dem roten Album kennen (Chaos, Spiralen und Diese Nacht): ein Ich am Ende der Nacht, das das Anbrechen des neuen Tages erwartet. Hier wird also eine anthropologische Grundkonstellation verhandelt, die keine historische Konkretisierung braucht, um immer wieder spannungsreich zu sein. Das Enden und Beginnen, der Übergang vom schwindenden Jetzt in eine gleichzeitig schon erkennbare Zukunft (»Ein Gruß aus der Zukunft / Mehr ist es nicht«). Nun gut, das hat immer wieder was für so ein echtes Lied. In seiner historischen Redundanz und einzelnen Präsenz eignet sich dieses Setting, um die basale Sukzession musikalisch pompös (im »Schunkelbeat«) zu begleiten: »Dann kommt der Morgen / Dann kommt der Morgen / Dann kommt der Morgen / Siehst du es nicht? / Und spürst du es nicht? / Der Regen fällt uns / Ins Gesicht / Siehst du es nicht? / Und spürst du es nicht / Das ist der Morgen / Mehr ist es nicht. « Ein Lied ist ein Lied ist ein Lied?
2. Schwebende ExistenzenDie Grundsituation des Morgengrauens ist so fundamental, dass sie als Chronotopos nicht nur eine fixierte – auch hier aufgerufene – Raum-Zeit-Konstellation besitzt (Ein Ich/Wir im Innen blickt nach Außen und sieht den Morgen kommen), sondern auch bestimmte Figuren anzieht. Diese Typen (im doppelten Wortsinne) sind nun das genau Gegenteil von der Kollektiv-Lowtzow’schen Biographiefiktion in Die Unendlichkeit. Hier geht es nicht um konkrete Ereignisse, die dem westdeutschen Popkind eine (vielleicht!) universelle, auf jeden Fall aber genussvolle Identifikation ermöglichen. Die beiden Songs beschwören vielmehr Figuren herauf, die den Zwischenraum und die Zwischenzeit seit jeher bevölkern. Weil wir es aber hier mit einem bis zur Leere verdichteten Liedlied zu tun haben, wird das eigentliche Potential dieser GrenzgängerInnen nicht ausgeschöpft: Die Grenze wird nie überschritten. Wenn man möchte, kann man hier die Frau vor dem Sonnenaufgang (oder – und das ist genau der Clou des Schwebezustands – genauso die Frau vor dem Sonnenuntergang) erkennen, die Caspar David Friedrich in seinem Gemälde stillstellt. Wie im romantischen Lied geht es hier um die universelle Erwartung. Die Spannung lebt hier allein von der musikalischen Steigerung, von der Vertonung der Erwartung und nicht vom Geschehen. Diese Figuren haben außerdem keine partikulare Geschichte, sie sind ganz Tradition: »Wo ich wohne ist bekannt«. Dabei wären hier nette Plots auszuerzählen gewesen; etwa von Künstlern, die an der Schwelle zum Durchbruch stehen: »Ich sitze drinnen und tippe stumm / Ständig auf dem blöden Ding herum / Gesund ist das nicht / Innerhalb der halben Stunde, die mir bleibt / Bis mich das Licht vertreibt« oder von Kriminellen, die sich auf der Flucht neu erfinden: »Mit neuen Strategien / Und gefälschten Biografien […] Wir verwischen die Spuren / Uhrenvergleich / Unsere Fahrt / Ist noch nicht vorbei / Und wir / Wir werden frei sein. « Die Grenzsituation bietet also das Potential, notorischen GrenzgängerInnen ein Habitat zu bieten – auch solchen übrigens, die nicht menschlich sind: Vampiren »Bis mich das Licht vertreibt« und Außerirdischen »Auf diesem Planeten / Hält uns nichts mehr«. Die Unendlichkeit macht aus diesen einzelnen aber keine spannenden Geschichten, sondern versammelt sie als gesichts- und geschichtslosen Chor der Romantiker vor dem Friedrich’schen Fenster.
Der Morgen bietet aber nicht nur den fleischlos-traditionellen Typen einen stillgestellten Ausblick ins Ungewisse, sondern war auch schon immer Metapher. Und deshalb häufen die beiden Songs neben Grundfiguren auch noch mitgemeinte Grunderlebnisse an, die sich im Bild des Morgens fassen lassen: Der Übergang von der Nacht zum Tag ist natürlich eine beliebte Folie für den Tod und das gilt im Besonderen auch für »das weiße Licht« (s. George Michael oder Hieronymus Bosch), das danach (metaphysisch oder physiologisch – eine alte Debatte) auf den Sterbenden wartet. Den unsterblichen Vampir in Bis uns das Licht vertreibt muss es dagegen notwendigerweise »vertreiben«. Wenn der Morgen für den Tod stehen kann, dann kann er zugleich problemlos für seinen Bruder, ›den kleinen Tod‹ stehen: »Bald atmen wir schwer / Auf diesem Planeten / Hält uns nichts mehr«. Die sich steigernde, heulende Orgel und das quietschende Trillern lassen Mein Morgen durchaus orgiastisch erscheinen und die überladene Orchestrierung des Songs hat tatsächlich mehr mit Runges Visionen als mit Friedrichs biederer Dämmerungsbeobachterin zu tun. So wird in Mein Morgen eine dritte metaphorische Ebene greifbar: Das weiße Licht als Rausch, sei er sexuell oder durch Drogen herbeigeführt (s. OOMPH!).
4. Das TageliedAll diese Dimensionen der Grundsituation ›Tagesanbruch‹ rufen die beiden Songs auf, ohne daraus jedoch mehr zu machen als ein romantisches Über-Lied. Eine letzte Fährte soll aber noch aufgegriffen werden – sie führt noch tiefer in die Tradition und bietet deshalb keinen neuen Ansatz, wohl aber einen weiteren entzückenden Wissensfundus. Der erwähnte Chronotopos (Morgendämmerung – Blick vom Innenraum ins soziale Außen) ist nämlich auch in der Romantik nicht mehr ganz neu. Die Liebenden, die nach einer gemeinsamen Nacht die von draußen hereinbrechende Welt wahrnehmen (»Von weitem / Hören wir den Verkehr«), das ist die Grundsituation des mittelalterlichen Tagelieds. Dieses Genre ist der systeminterne Gegenentwurf zu den Werbe- und Klageliedern der Hohen Minne, hier findet eine Erfüllung statt. Während der Minnesang die Erwartung auf die Liebe verstetigt, friert das Tagelied jedoch den Moment der erwarteten Trennung ein. Im Mittelalter bedeutet das, dass sich für einen kurzen – darstellbaren – Augenblick die Systeme der Nacht, also des Privaten, Inneren, Unsagbaren und des Tages, also Höfischen, Äußeren, Erlaubten begegnen. Der Sänger hat die Aufgabe, diese fragile Situation mit ausreichend Gesagtem und Ungesagtem zu füllen und so seine Kunstfertigkeit zu beweisen.
Hat das irgendetwas mit Tocotronic zu tun? Nun, innerhalb der Logik von Die Unendlichkeit sind auch diese Titel gewissermaßen ein Gegenentwurf. Wo allerdings das Mittelalter gegenüber dem abstrakten Hohen Sang im Tagelied handfest konkretisiert, vollziehen diese Tagelieder relativ zum restlichen Album eine umgekehrte Bewegung – sie universalisieren und verwischen ins Überzeitliche. Ebenso wie Lieder im Minnesang sind auch sie übrigens Teil eines Systems von Variationen desselben Typus: Deshalb finden sich zwei Tagelieder auf dem Album – ein furchtvolles Erwarten und ein ekstatisches.
Was das soll? Im Zweifel ist es Pop. Das bedeutet in diesem Fall: selbstbezügliche Liedlieder, deren Ziel ihre eigene Präsenz ist. Das dient vielleicht im historischen Tagelied dazu, denjenigen schaurig-schönen Moment einzufrieren, in dem die Vereinigung nur deshalb sag- und singbar wird, weil sie vorüber ist. Einfrieren bedeutet beides: töten und konservieren. Bei jedem Vortrag des Liedes ist die Vereinigung erneut gerade noch und zugleich nicht mehr präsent. Hier kann die Kunst also die Zeit aushebeln – dieser Morgen, Mein Morgen, kommt nie, das Lied dagegen ist wiederholbar.
Die Tagelieder in Die Unendlichkeit arrangieren derartig Tiefgekühltes aus einer jahrtausendealten Kulturgeschichte so, dass Wolframs Liebende, Romeo und Julia und zahllose romantische Stimmen im Chor den Morgen (d.i. den Tod, den Orgasmus, den Rausch) als universelle Grenzerfahrung besingen. Vielleicht braucht ein autobiographisches Album diese Rückbindung an das Große-Ganze? Möglicherweise sehnt sich das Band-Ich bei so viel Zeitkolorit nach ein bisschen Auflösung in der Nicht-Zeit ihrer abstrakten Alben? Vielleicht braucht Pop – gerade, wenn er besonders ausgehöhlt wirkt – ein dichtes Netz an selbstbezüglichen Verweisen? Oder fordert der akribisch nachbereitende Poproman auch einfach Unterbrechungen, die trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer kulturgeschichtlichen Dichte völlig leer sind: wie Werbepausen oder Songs im Musicalfilm. Diese Intermezzi lassen uns durchatmen und zugleich ihr Ende herbeisehnen – ebenso gespannt, wie die Ichs den Morgen erwarten.
Danke, Anna Bers für die Verlinkung meine Liebe! 3
Anna Bers, thank you for this post. Its very inspiring.