Impressum Disclaimer Über Litlog Links
Unzensiert lektoriert

Poetry Slams und Lesebühnen boomen. Steht dieses Konzept mit Eventcharakter im Widerspruch zum tradierten Literaturbegriff eines sprachlich fixierten Textes – gesetzt, gedruckt, gebunden? Der Paderborner Verlag Lektora zeigt, wie man geslammte Texte zugänglich macht, ohne den Lektorenrotstift anzusetzen.

Von Alena Diedrich

Das deutsche Lehnwort ,Lektor‘ – von lat. lector also ‚Leser‘ – bezeichnet heute eine berufliche Position innerhalb eines Verlages, auf die bei der Auswahl und Bearbeitung von Texten kaum verzichtet werden kann. Ein hinreichender Grund dafür, gleich einen ganzen Verlag nach diesem Terminus zu benennen. Doch der Paderborner Lektora-Verlag hat bei der Namenswahl sicherlich noch weiter gedacht: Denn lector heißt darüber hinaus auch ,Vorleser‘ – eine praktische zweite Wortbedeutung für einen Verlag, der sich auf die Herausgabe von Slam-Poetry und -Prosa sowie von Lesebühnentexten spezialisiert hat.

Seit 2001 gibt es den Verlag »aus der Szene für die Szene«, seit 2009 existiert Lektora als GmbH. Er beherbergt drei festangestellte Mitarbeiter, einen Volontär und eine Handvoll Praktikanten. Im Unterschied zu anderen Verlagen, wie etwa Periplaneta in Berlin, die neben anderem ebenfalls Slam-Texte verlegen, ist Lektora bisher ein reiner Slam-Verlag, der darauf setzt, die Spoken-Word-Performance quasi als authentisches Dokument auch in gedruckter Form zu erhalten. Dies heißt, dass die Texte für den Druck nicht verändert, sondern in ihrer Vortragsform belassen werden.

Der wirtschaftlichen Situation einerseits und der gut vernetzten Slammer-Szene andererseits ist es vermutlich zu verdanken, dass Lektora allerdings nicht nur Verlag ist, sondern seine Fühler auch in andere Ressorts ausstrecken kann. So hat sich neben dem Verlag mit einer Veranstaltungsagentur, die den Verlag seit seinen ersten Tagen begleitet, ein zweites Standbein etabliert. Das ,Projekt Lektora‘ versteht sich auch als Event- und Schulungsagentur: Die Mitarbeiter und Autoren des Verlages bieten Fortbildungen und Workshops zum Thema Slam-Poetry an. Häufig unterstützt werden sie dabei von der Kulturförderung, denn die Slam-Szene zieht seit ihrem Boom in den 1990er Jahren – in den USA bereits seit der Mitte der 80er Jahre – ihre Kreise auch in Schulen, d.h. auf Lehrplänen und bei Lehrerfortbildungen.

Der größte Zweig dieser Lektora-Abteilung liegt zweifellos in der Organisation der ortsansässigen Poetry Slams, wie z.B. dem Paderborner „Kult Slam“ und dem dortigen Science Slam oder – auch überregional – des NRW-Slams und der Westfälischen Meisterschaften, dieses Jahr erstmalig auch mit einer U20-Abteilung für den jüngeren Slammer-Nachwuchs.1

Längst haben sich die Poetry-Slams aus der ,Subkultur‘ heraus zum angesehenen Event gemausert. Das Publikum besteht meist aus Akademikern und Schülern, also einem geübten Lesepublikum, das durchaus literarische Qualität erwartet. Dabei haben sich bestimmte Slam-Genres etabliert: Kurzgeschichten, Miniaturen, literarische Portraits – und Lyrik natürlich, die meist dem Sprachgesang angenähert, häufig in gebundener, sangbarer Sprache also einer oralen Tradition folgt. Dabei gilt nicht immer, dass die geistreichste und witzigste Pointe gewinnt, auch ernsthafte und eher melancholische Texte werden vom Publikum gerecht mit Punkten belohnt.

Info

lektora-boxWeitere Informationen zum Verlag, zu seinen Autoren und zu den Veranstaltungen gibt es bei
Lektora und Kultslam.

 
 
Doch es ist nicht nur der Inhalt, der die Slam-Texte trägt, sondern vor allem ihre Form, der Rhythmus, bzw. das Zusammenspiel aus beidem: Der Slam-Text funktioniert als ein Klangkörper, weswegen zu ihm unweigerlich auch der Vortrag gehört – und mehr noch die charismatische Persönlichkeit und die Originalität des Vortragenden. Ist es überhaupt möglich, das zwischen zwei Buchdeckeln einzufangen? Immerhin besser im Buch als auf CD oder Video, so zeigt Lektoras Verlagserfahrung. Und auch im ,Kombipack‘ aus Buch und CD, ist es wohl nicht die CD, die zum Kauf verleitet. Das Live-Erlebnis ist nicht reproduzierbar; die Performanz verliert durch die konservierenden Medien. Der Slam lebt von der Singularität des Vortrags-Ereignisses, so Karsten Strack, Eigner des Verlages. So entstammen die Käufer meist dem Publikum der Slams, die beim Nach-Lesen den Vortrag noch im Ohr haben und das Live-Erlebnis für sich selbst aktualisieren möchten.

Zu den für lyrische Texte vergleichsweise hohen Verkaufszahlen kommt es daher, dass die Slammer durch ihre Auftritte für sich selbst die Werbetrommel rühren: Auf 150 Slams im Jahr, weiteren Lesebühnen-Veranstaltungen und Solo-Lesungen beweisen sie eine extrem hohe Bühnenpräsenz und bieten ihre Texte bundesweit vor einem für Dichterlesungen riesigen Publikum dar: Bei den Deutschen Meisterschaften 2011 in Hamburg lasen die Teilnehmenden vor ca. 4.000 Zuschauern. Herausragende Slammer verkaufen daher wesentlich mehr Bücher im Jahr als der durchschnittliche Lyriker: Patrik Salmen, Sieger der Deutschen Poetry-Slam-Meisterschaften im Jahr 2010, verkaufte sein Debüt Distanzen allein im 4. Quartal 2011 über 1.000 mal und ging daraufhin in die zweite Auflage.

Slam-Texte sind ernst, sensibel, emotional, humor- und energievoll. Sie zeigen eine breite Palette an Ideen und Stilen. Dies spiegelt sich in Lektoras Verlagsprogramm: Mit gut 30 aktiven Autoren hat der Verlag einiges an Abwechslung vorzuweisen, so z.B: den schon genannten Deutschen Slam-Meister 2011, Patrik Salmen, Micha-el Goehre, der seit 2002 auf Lesebühnen und bei Slams aktiv ist, oder Tilman Döring, der zweimal Halbfinalist der deutschen Meisterschaften war und im Finale der U20-Meisterschaften stand.

Patrik Salmen: Distanzen und Tabakblätter und Fallschrimspringer

Patrik Salmen schreibt Prosa und Lyrik über Helden und Alltagshelden, verfasst »Stadtrandnotizen« über die Profanität des Alltags, erzählt von »gewöhnliche[n] Biere[n] an gewöhnlichen Orten« und von der Abwesenheit von Metaphern: »Männer in Kneipen sind Männer in Kneipen«. Dennoch sind seine Texte voll von Erzählungen über das Erzählen, über den Verlust von Träumen – »Man verliert die Dinge. Einfach so.« – und die Bedeutung von Worten – etwa dem Unterschied zwischen einer Gießkanne und dem Wort ,Gießkanne‘ oder eben der Vorstellung oder Erzählung von ihr: »Gießkannen sind grün. Grün sind sie. Blau sind sie selten.« – Doch schneller als man denkt, verwandelt sich Melancholie in Erzählung: »Gerne hätte ich dir schon damals zum Abschied eine Gießkanne geschenkt. Hier hast du sie. Ich hab dir eine geschrieben. Der Lack blättert schon etwas. Sie ist grün.«

Patrik Salmens Texte sind kaum einfache Kurzgeschichten sondern vielmehr Wahrnehmungs- und Stimmungs-Miniaturen, Momentbeobachtungen und verschriftlichte Bild-Emotionen, in denen die Welt zur Textur wird: »Und Worte tropfen wie Regen herab. Die Buchstaben prasseln auf dich nieder, peitschen durch dein Gesicht und dein Blick geht zu Boden auf Bordsteintexturen.« Doch »das Leben ist wie ein beschriebenes Blatt Papier« und was hier noch schwer wiegt und niederdrückt, kann mit Leichtigkeit auch in Worte aufgelöst, zersetzt und so überwunden werden: »Du greifst zum Stift und notierst. Distanz ist manchmal nur ein Sprung in der Zeile.«

Micha-el Goehre: Wenn das Leben eine Party ist, sucht mich in der Küche,

denn »[m]eist sind [dort] neben gut gekühlten alkoholischen Getränken auch kaum verschimmelte Lebensmittel vorhanden«. In der Gerüchteküche, wo »Hektik und Wasserkocher Chefkoch spielen« brodeln zwischen Anekdotenherd »und Kühlschrank die schönsten Geschichten«. Wenn Micha-el Goehres Ich-Erzähler frei aus seinem Leben plaudert, kann es schonmal vorkommen, dass er morgens nach einer Party im Bett verkatert neben Michail Gorbatschow aufwacht, in einen Zeitreise-Regress gerät, frei nach E.A. Poe Selbstversuche im Lebendig-Begraben-Sein unternimmt oder als Robinson des 20. Jahrhundert auf einer Verkehrsinsel strandet. Zur Höchstform läuft das phantastische Party-Alter-Ego des Autors allerdings bei der Beschreibung ostwestfälischer Schützenvereinsmärsche auf: »Das Ganze sieht ein wenig aus, als hätte jemand Wanderdünen mit grünem Filz überzogen, ordentlich Doppelkorn drübergekippt und als Dekor Gamsbärte, Lametta und Blechstücke dran geklebt.«
Bei Micha-el Goehre geraten diverse Gedankensplitter in den rasanten Ideen-Mixer, dennoch werden seine Texte zu homogenen Zeugnissen einer post-modernen Party-Kultur, in der die Küche die Keimzelle einer brodelnd-produktiven Schreibkultur ist.

Tilman Döring: Lass uns feiern, Malou

Tilman Dörings Debüt Lass uns feiern, Malou ist eine Sammlung unterschiedlicher Texte aus fünf Jahren Poetry Slam, in der Döring beschreibt, wie die fröhliche Konfetti-Gesellschaft schnell zum Zwang und zur Amüsier-Sucht gerät, die nur noch bunt glitzernder Habitus ist:

Spiel mir den Walzer und sing’ mir dazu,
lass uns schunkeln und lachen und feiern, Malou!
Ich brauch’ das Getue, ich brauch das Geschwätz
Auch wenn ich’s verfluche, ich brauche es jetzt.

In dem Frauennamen Malou, der soviel wie »kleines Mädchen« bedeutet, verbirgt sich mit dem Wortstamm malus auch ein schwarzer Kern. Zwischen Nachmittagstalkshow und Volksfest-Biertisch werden hier die tiefen Abgründe einer Gesellschaft sichtbar, die sich von grellen Bildern bereitwillig täuschen lässt und dabei doch immer weiß, welches Spiel sie spielt. Es ist daher kein moralischer Zeigefinger, der sich hier mahnend erhebt – das »Wir« der Gedichte schließt ja immer das »ich« mit ein –, sondern ein resignativer Fatalismus, der auch die eigene Position als Poetry-Slammer niemals ausnimmt. So wird in Gangsta-Poesie das eigene Klischee als bittere Wahrheit besungen: »Mein Verlag ist mein Ghetto – es ist so hart hier / wir verlegen unsere Bücher nur über Hartz 4.«

Den wirtschaftlichen Existenzkampf eines Poetry-Slammers, der von seiner Kunst leben will, kennt auch sein Verlag. So ist der Lektora-Verlag stets darum bemüht, sein Programm sinnvoll zu erweitern. Derzeit befindet sich ein neues Verlagsressort im Aufbau: In der Sparte »Lektora World«, sollen zukünftig nicht nur Slam-Literaten sondern auch andere Autoren zum Thema »Reisen und andere Länder« verlegt werden. Und Lektora will in nächster Zeit auch digital werden: Mit dem eBook soll es im Frühjahr 2013 losgehen. Neben ganzen Bänden sollen dann vor allem auch einzelne Textauskopplungen sowie eine SlamAPP erhältlich sein.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 2. Juli 2012
 Bild von Михал Орела via flickr.
 Teilen via Facebook und Twitter
 Artikel als druckbares PDF laden
 RSS oder Atom abonnieren
 Keine Kommentare
Ähnliche Artikel
Keine Kommentare
Kommentar schreiben

Worum geht es?
Über Litlog
Mitmachen?