Die drei Stücke Die Koralle, Gas I und Gas II von Georg Kaiser, die das DT unter dem Titel Gas zusammengefasst hat, sind thematisch eng verbunden: Sie beschäftigen sich mit der ewigen Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, der Unmöglichkeit ihrer Auflösung und den Abgründen der modernen Industriegesellschaft.
Von Marten Santjer
Die KoralleIm Zentrum dieses Stückes steht der Konflikt zwischen einem Milliardär und seinem Sohn. Ersterer, ein erfolgreicher Unternehmer, welcher selbst als Kind einer Arbeiterfamilie die Leiden dieses Milieus in der Form einer Familientragödie erleben musste, hat sich zum Ziel gesetzt, seinen Sohn vor jedweder Unbill zu behüten. Dieser solidarisiert sich jedoch mit der Arbeiterschaft und hat auf einem Kohlendampfer als Heizer angeheuert. Kaum ist der Vater durch seinen Sekretär, der als Erkennungszeichen die titelgebende Koralle trägt, von diesem Umstande unterrichtet, macht er sich auf, dem Frachter mit seiner Yacht zu folgen. Auf dieser kommt es dann, sobald sie den Dampfer erreicht hat, zu einer Aussprache, in der Vater und Sohn in leidenschaftlicher Weise ihre jeweiligen Motive schildern. Währenddessen erfährt die nur leicht überzeichnet dargestellte feine Gesellschaft an Deck von einem offenbar hitzebedingt zusammengebrochenen Heizer. Sofort besteht der noch wie ein Heizer gekleidete Sohn darauf, den Kranken an Deck zu bringen, setzt sich mühsam durch und versucht daraufhin, den Schiffsarzt zu einer Behandlung zu drängen, wie er sie auch der feinen Gesellschaft an Bord angedeihen ließe; aber der Heizer verstirbt nach hochdramatischen Rettungsversuchen von Seiten des Sohnes noch an Deck.
Der Konflikt spitzt sich weiter zu, als es in einer Grube, die sich im Besitze des Milliardärs befindet, zu einem Unglück mit vielen Toten und Verletzten kommt. In der Folge taucht dann der Sohn mit einer Waffe im väterliche Büro auf…
Das Deutsche Theater in Göttingen zeigt als größtes Theater der Stadt ein umfangreiches Repertoire auf drei Bühnen. Bereits seit den 1950er Jahren errang das DT unter Leitung des Theaterregisseurs Heinz Hilpert den Ruf einer hervorragenden Bühne. Seit der Spielzeit 2014/15 ist der Schweizer Erich Sidler die künstlerische Leitung des Hauses.
Arm und Reich auf dem Vergnügungsdampfer
Gas IDie Handlung spielt im Wesentlichen auf dem Gelände eines Gaswerkes, das durch eine Explosion ganz zu Anfang des Stückes in Schutt und Asche gelegt wird. Doch dieses Gaswerk war kein normaler Betrieb; vielmehr war es die Realisierung einer Utopie: Alle Mitarbeiter sind einander gleichgestellt und zugleich Anteilseigner am Unternehmen. Und trotzdem kommt es zu gleich mehreren Konflikten. Zuerst fordern die überlebenden Arbeiter die Entlassung des Ingenieurs, dem jedoch kein Fehler nachgewiesen werden kann, und haben damit sogar Erfolg, nachdem sie in einen unbefristeten Streik treten. Außerdem stellt sich heraus, dass der Leiter des Werkes gar nicht daran denkt, es wieder errichten zu lassen. Statt dessen möchte er seine Utopie weiterentwickeln und verfolgt ein Siedlungskonzept, das seine Mitarbeiter aus dem Arbeiterstand entlassen und in ein harmonisches Leben in der Natur führen will. Doch stößt er damit bei den Arbeitern, deren Identitäten bereits voll und ganz mit den jeweiligen Funktionen im Arbeitsprozess verschmolzen sind, auf erbitterten Widerstand. Am Schluss löst die Regierung den Streik auf und sorgt dafür, dass die Produktion des unverzichtbaren Energieträgers zum Wohle der gesamten Volkswirtschaft fortgesetzt werden kann.
Gegenüber der Koralle tritt das Bühnenbild viel stärker in den Vordergrund und wird geschickt in das Geschehen integriert, indem die Arbeiterschaft beispielsweise an zur Decke emporgezogenen Trümmern hochklettern. Zudem unterhält das Stück durch überspitzte und skurrile Szenen, die den Kontrast zwischen Utopismus auf der einen und Festhalten an bekannten Rollen und Denkmustern auf der anderen Seite humoristisch auf die Spitze treiben. Besonders unterhaltsam ist die Szene, in der die Streikenden ihre Aufgaben im Gaswerk beschreiben, indem sie ein Lob auf die dabei wichtigen Körperteile singen.
Hierbei handelt es sich nun um eine Darbietung ganz eigener Art, die einen gleichermaßen innovativen wie völlig frei interpretierbar und teils verstörenden Eindruck hinterlässt. Während die Schauspieler auf der Bühne ohne Text auskommen, wird vom Orchestergraben aus ein disharmonischer Tonteppich mit vereinzelten Textelementen über verschiedene Massenszenen gelegt, die auf der Bühne gespielt werden. Auf das ganze werden dann noch Filmsequenzen projiziert, die nur an bestimmten Stellen klar erkennbar sind – dort nämlich, wo sie auf Oberflächen treffen, die im Hintergrund unablässig auf und ab bewegt werden. Das Bildmaterial der Projektion besteht dabei aus verstörenden Bildern – vermutlich von Giftgasopfern. Vollständig dem Betrachter überlassen bleibt es, zwischen Projektion, Bühnenszenen, Musik und Text inhaltliche Verknüpfungen herzustellen. Was auf jeden Fall im Gedächtnis verbleibt, ist die apokalyptische Grundstimmung, deren Deutung als Vorgeschmack auf eine Art kapitalistische Endzeit gewiss in Kaisers Sinne wäre.
Installation zu Gas II mit Musik von Martin Engelbach.
Abwechslungsreiche InszenierungDie Inszenierung kann mit einigen Kunstgriffen aufwarten, die einerseits den immensen Aufwand, Bühnenbilder für drei Stücke bereitzustellen, ein wenig reduziert, andererseits aber auch für Abwechslung und humoristische Effekte sorgt. Eine große Rolle spielen dabei Projektionen. So werden in der Koralle große Teile des Bühnenbildes durch die Szenerie beschreibende Texteinblendungen in der Art von Regieanweisungen ersetzt. In Gas I wird hingegen zwischen zwei Bühnenbildern gewechselt, die – durch eine Wand getrennt – auf die beiden Hälften einer Drehscheibe gebaut worden sind. Schließlich verschwimmen in Gas II Projektion, Bühnenbild und abstoßend-futuristisch kostümierte Darsteller mit Gesang und Musik so sehr zu einem schrägen Gesamtkunstwerk, dass der Zuschauer kaum noch in der Lage ist, die einzelnen Darstellungsebenen zu trennen, wodurch die Verschmelzung von Mensch, Maschine und System perfekt versinnbildlicht wird.
Einen großen Anteil an der Wirkmächtigkeit der Inszenierungen und dem langanhaltenden Applaus des Publikums bei der Premiere hatte die musikalische Besetzung im Orchestergraben. Die Leistung von Schauspielern und Technik war in gleichem Maße souverän und hat ebenfalls vollständig überzeugt.
Zu Georg Kaiser (1878-1945)Zeitlebens war er ein kritischer und produktiver Geist, der ganze 70 Dramen geschrieben hat. Kaisers Werke sind in hohem Maße von seiner antifaschistischen und sozialistischen Grundeinstellung geprägt. Vor allem in Die Koralle kann man verschiedene Elemente seiner Biographie wiedererkennen. So heuerte er als Sohn eines reichen Kaufmannes, der wiederum wie im Stück aus einfachen Verhältnissen, nämlich aus einer Bauernfamilie, kam, 1898 auf einem Kohlenfrachter an, um nach Buenos Aires zu reisen, wo er für AEG arbeitete, bis er 1901 wieder nach Deutschland zurückkehrte. Hier entstanden zwischen 1916 und 1918 Die Koralle sowie Gas I und Gas II.
Sein künstlerischer Erfolg blieb anfangs aus, was ihn finanziell ruinierte. 1920 wurde er wegen Betruges verhaftet, nachdem er das Vermögen seiner Frau Margarethe Habenichts durchgebracht hatte. Als sozialistischer Autor wurde er 1933 aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen und mit einem Publikations- und Aufführungsverbot belegt. Außerdem waren seine Dramen unter den Schriften, die am 10. Mai 1933 öffentlich verbrannt wurden. Nachdem er in Deutschland aktiv am Widerstand gegen die Diktatur der Nationalsozialisten mitgewirkt hatte, floh er 1938 in die Schweiz, bevor die Gestapo sein Haus durchsuchen konnte.
FazitDieser Theaterabend hat letztendlich alles zu bieten, was man braucht: großes Pathos, satirischen Humor und unfreiwillige Komik der Klassenkämpfer in der Koralle, eine gesellschaftskritische Botschaft mit einer kurzweiligen Darbietung zur Reduzierung des Arbeiters auf seine Tätigkeit im Arbeitsprozess, durchweg überzeugende schauspielerische Leistung und genügend Stoff für anschließende Diskussionen über die Inszenierung. Zwar mag dem einen oder anderen nicht jedes Detail der überbordend innovativen Inszenierung von Gas II gefallen; aber langweilen kann sich garantiert niemand. Besonders im Gedächtnis verbleibt Gabriel von Berlepsch, wie er als Milliardärssohn der besseren Gesellschaft um seinen Vater die Leviten liest, die nichts besseres zu tun hat, als sich auf hoher See ein Wettrennen mit dem Kohlenfrachter zu liefern. Im Deutschen Theater wird auf jeden Fall wieder einmal richtig Gas gegeben.