Triggerwarnung: In diesem Text werden Gewalt und Rassismus erwähnt.
Im Sommer 2019 wurde Walter Lübcke ermordet. Inzwischen ist eine frisch transkribierte Rede Adornos aus den 60er Jahren erschienen. Damals machte sich die NPD in diversen Landtagen breit. Die ist inzwischen bedeutungslos, doch rechtsextreme Einstellungen stoßen auf mehr Akzeptanz.
Eine Polemik von Stefan Walfort
Kennt jemand noch Sabine Christiansen? Die Christiansen, die Ende der 1990er Jahre eine Art Monopolstellung im wöchentlichen Polittalk-Business innehatte? Wenn nicht, ist das zu verschmerzen; Christiansen gibt es mittlerweile doppelt und dreifach, nur tritt sie jetzt abwechselnd als Plasberg, Illner oder Will vor die Kameras, und eins haben die Charaktermasken, wie immer sie heißen mögen, alle gemeinsam: »ihr journalistisches Rückgrat kommt dem einer Salatschnecke gleich«, um es mit Wiglaf Droste ganz nonchalant zuzuspitzen. Von ihnen haben extreme Rechte wenig zu befürchten. Bei der Regelmäßigkeit, mit der Talkmaster*innen sie hofieren, ist fast schon vergessen, dass Christiansen kurzfristig auch mal Jauch hieß und dass der legendär-peinliche Abend, an dem Björn Höcke in Jauchs Sendung eine schwarz-rot-goldene Fahne auf der Armlehne ausbreitete, am Anfang einer fatalen Normalisierung stand. Tucholskys »Küsst die Faschisten« ist offenbar nicht als Ironie, sondern als Handlungsaufforderung begriffen worden.
Ständig ist nun das Mantra zu hören von der Notwendigkeit, allen Positionen Gehör zu schenken, und wenn sie noch so faschistoid sind. Opfer rechter Gewalt oder deren Hinterbliebene – wenn die Gewalt wie so oft tödlich ausging – kommen hingegen eher nicht zur besten Sendezeit zu Wort. Warum auch? Empathie ist ja was von vor 2015. Teddybären haben wir eh keine mehr zu verschenken, und die
Refugees-Welcome-Shirts sind auch schon ganz ausgeleiert. Tief in den Plunderkisten eingemottet sind sie oben auf den Dachböden gelandet, wo unsere Enkel sie nach dem nächsten großen Krieg aufstöbern können: Hab᾽ ich es doch immer geahnt; Opa war im Widerstand, wird es dann wieder heißen.
Bis dahin können Nazis im Staatsapparat seelenruhig weiter Todeslisten anlegen, Leichensäcke und Ätzkalk ordern, »Munition klauen und horten«, wie es durch den »Nordkreuz«-Komplex bekanntgeworden ist: Teile der Prepper-Szene, Polizist*innen und Soldat*innen hatten sich auf einen »Tag X« vorbereitet, an dem sie Andersdenkende hinrichten wollten.
Und was ist mit der linken Gewalt? – So in der Art lamentieren selbst nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten diejenigen in Endlosschleife, von denen es nicht anders zu erwarten war wie beispielsweise Wolfgang Kubicki am 30. Juni in der FAZ. Angezündete Autos sind nach solch einer verqueren Logik mindestens genauso tragisch wie heimtückisch niedergeschossene ›Gutmenschen‹ oder ›Muselmanen‹. Walter Lübcke? Halit Yozgat? Oder die beiden Menschen, die vorgestern in Halle ermordet wurden, nachdem ein Anschlag auf die Synagoge scheiterte? Kennt ja eh niemand. Mercedes Benz dagegen dürfte wohl allen ein Begriff sein.
Ein Problem der MitteHätte Adorno das alles gewundert? Als er vor 52 Jahren, 200 Ermordeten und tausenden Brandanschlägen weniger vor seinen Studierenden die nun von Suhrkamp herausgegebene Rede Aspekte des neuen Rechtsradikalismus hielt, resümierte er jedenfalls schon: »es ist sicher heute bereits diese Entwicklung viel zu weit gegangen«. Vor dem Hintergrund lässt sich vermuten, dass es auch künftig immer noch fürchterlicher kommen kann.
Dabei ließe sich von Adorno heute viel für eine fundierte Analyse des Rechtsradikalismus lernen. Zu nennen ist beispielsweise der Einfluss ökonomischer Ungleichheit auf eine wachsende Akzeptanz rechtsradikaler
Dazu neigen nicht etwa nur in objektiv wirtschaftlich prekärer Lage eingekeilte Personenkreise. Stattdessen geht es um größere, sich durch ein Pochen auf »Etabliertenvorrechte« (wiederum Heitmeyer) kennzeichnende Milieus, bei denen die Versprechen von Faschos auf fruchtbaren Boden fallen. Schon Adorno warnte 1967 die Student*innen vor einer zu simplen Sicht auf die autoritär Anfixbaren und vor »Trostphrasen«, gemäß derer es sich nur um die üblichen »›Unbelehrbaren‹« handele. Vielmehr seien »die Anhänger des Alt- und Neufaschismus quer durch die Gesamtbevölkerung verteilt«. Daran hat sich bis 2019 nichts geändert. Heitmeyers und weiteren Studien zufolge geht es vielen Sympathisant*innen der sogenannten Neuen Rechten den Einkommen nach durchaus nicht schlecht. Gerade deshalb erscheinen ihnen Fremde als Gefahr für ihren verdient geglaubten Wohlstand. Wenn es nach ihnen ginge, hätten sich Fremde beim Verteilen vermeintlich knapper werdender Ressourcen gefälligst ganz hinten anzustellen. Überhaupt gehören die ja gar nicht hierher und passen auch kulturell nicht in die ach so ehrenwerte Volksgemeinschaft, fuchteln einem ständig mit Messern unter der Nase herum und baggern einheimische Frauen an – so oder so ähnlich lauten dann diverse Stereotype, mit denen das eigene gewalttätige, weil stigmatisierende und ausgrenzende, Verhalten rationalisiert und legitimiert werden soll.
In der Mitte der Gesellschaft finden solche Muster Anklang. Adornos Zentralbefund, dem zufolge »die gesellschaftlichen Voraussetzungen des Faschismus nach wie vor fortbestehen«, hat damit an Virulenz nicht das Geringste eingebüßt. Forscher*innen der Uni Bielefeld wie Heitmeyer, Beate Küpper, Andreas Zick und viele andere bestätigen das seit Jahrzehnten. Gegenüber einer sich taub stellenden Mehrheitsgesellschaft reden sie sich regelrecht die Münder fusselig.
Wehrhaft ist diese Demokratie nichtAuch ist die Erkenntnis nicht neu, dass es fatal ist, Rechtsradikalen den roten Talkshow-Teppich auszurollen. Zu den Verdiensten Adornos und seiner Mitstreiter vom Frankfurter Institut für Sozialforschung, auf die es sich derzeit zurückzubesinnen gälte, gehört die systematische Analyse der Merkmale autoritärer Charaktere. Hass auf alles Schwache haben Adorno und Co als das wichtigste identifizieren können. Dazu gehört auch ein Hass auf Kompromisse, wie sich in Aspekte des neuen Rechtsradikalismus noch einmal nachlesen lässt. In der Praxis zeigt sich des Öfteren, beispielsweise wenn Beatrix von Storch ihre Forderung nach einem Schießbefehl damit rechtfertigt, »auf der Computermaus abgerutscht« zu sein, wie dieser Hass mit einer Lust einhergeht, Partizipation an demokratischer Willensbildung als lächerlich vorzuführen, sie zu nutzen, um sie nachhaltig zu düpieren. Wenn die Christiansens von heute dauernd solche nach Adorno eigentlich »unansprechbaren« Charaktere ihre Spielchen spielen lassen, tragen sie maßgeblich dazu bei, die Demokratie zu beschädigen.
Ob diesbezüglich die Lernbereitschaft bei den Verantwortlichen deshalb so gering ausfällt, weil – mit Adornos Worten – »die Demokratie eben bis heute nirgends wirklich und ganz sich konkretisiert hat, sondern formal geblieben ist«? Für ihn waren Rechtsextreme »die Narben einer Demokratie […], die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute noch nicht voll gerecht wird«. Halit Yozgat? Walter Lübcke? Die beiden Opfer aus Halle? Inzwischen sind die Narben längst neu zu klaffenden Wunden aufgerissen. Wann wird eigentlich Bekenntnissen zur Wehrhaftigkeit, auf der die Demokratie angeblich fußt, eine angemessene Praxis folgen? Das hieße Nazis auch als solche zu benennen und sie konsequent zu ächten.
Nach Volker Weiß, Historiker und Autor der 2017 erschienenen Monografie Die autoritäre Revolte, der zu Aspekte des neuen Rechtsradikalismus ein knapp 30seitiges Nachwort verfasst hat, gibt es leider wenig Grund, optimistisch in die Zukunft zu schauen:
Heute zeigt die immense Zugkraft frauenfeindlicher und homophober Agitation in Zeiten der Gleichberechtigung oder die Renaissance des religiösen Fundamentalismus inmitten einer säkularen Gegenwart, wie trügerisch es ist, sich im Lichte des Erreichten zivilisatorisch in Sicherheit zu wiegen.
Und Weiß schlussfolgert: »Zu einer Historisierung Kritischer Theorie besteht also kein Anlass«. Recht hat er. Von Adorno lernen heißt, auf der Hut zu sein. Deshalb sollten alle, denen die Demokratie wichtig ist, Aspekte des neuen Rechtsradikalismus unbedingt lesen.